Interview mit Potsdamer Chefarzt: „Die Grippe wird unterschätzt“
Gefährliche Nebeneffekte, Ignoranz und der Volksmund: Professor Weinke, Chefarzt in Potsdam, erklärt, warum eine Grippeimpfung sinnvoll ist.
Stand:
Herr Professor Weinke, ist es aus Ihrer Sicht fahrlässig, wenn man sich nicht gegen Grippe impfen lässt? Immerhin könnte man andere anstecken und es ist ja nur ein kleiner Piekser.
Also ich würde die Frage ein bisschen differenzierter beantworten. Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob jemand eine Sorgfaltspflicht gegenüber anderen hat, so wie wir als medizinisches Personal oder Angehörige von immungeschwächten Personen. Wenn diese Personengruppe eine Influenza hat und diese überträgt, würde ich es als fahrlässig erachten, wenn er sich nicht impfen lässt. Wir wissen allerdings, dass die Realität in Deutschland ganz anders aussieht: Vom medizinischen Personal sind bedauerlicherweise nur 25 Prozent geimpft. Das sind dramatische Zahlen. Dabei sollte vor allem medizinisches Personal, aber auch Angehörige von Tumor- und Krebspatienten, die wirklich mit ihrem Immunsystem ein Problem haben, tunlichst geimpft sein. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie nicht nur selbst erkranken, sondern dass Influenza-Virus auch übertragen. Es muss sich jeder selbst die Frage beantworten, wie viel Verantwortung er für andere trägt und ob er sich impfen lassen will.
Professor Thomas Weinke (57) ist seit 1997 Chefarzt für Gastroenterologie und Infektiologie am Klinikum „Ernst von Bergmann“. Davor war er am Berliner Benjamin Franklin Klinikum tätig.
Warum ist die Impfquote so gering?
In der ganzen Bevölkerung sehen wir eine gewisse Ignoranz und Impfmüdigkeit gegenüber dem Thema Influenza. Wir sind es normalerweise gewohnt, mit einer Impfung ein Rundum-sorglos-Paket zu bekommen. Das hat man mit der Influenza-Impfung nicht. Bei gesunden Menschen gibt es eine Schutzrate von etwa 80 Prozent, bei älteren sogar wahrscheinlich nur noch 60 Prozent, weil das Immunsystem nicht mehr so gut arbeitet. Das ist uns zu wenig. Wenn wir eine Schutzwirkung verlangen, dann wollen wir 99, eigentlich sogar 100 Prozent. Das kann man bei Influenza-Impfstoffen wegen der extrem variablen Oberflächenproteine des Virus nicht erreichen. Wenn ich im Februar definiere, wie die Erreger wahrscheinlich im Dezember aussehen, dann habe ich eine Lücke, die ich nicht abdecken kann. Dennoch: Wenn zum Beispiel in einer Saison einer von zehn an einer Influenza erkrankt, würde eine 50-prozentigen Schutzwirkung bedeuten, dass dann nur noch einer von 20 erkrankt. Damit erreiche ich schon etwas. Natürlich sind 60 Prozent individuell für mich relativ wenig, aber trotzdem kann man damit Krankheitsfälle verhindern. Die Ständige Impfkommission empfiehlt daher die Impfung.
Wann sollte man sich impfen lassen?
Man sollte im Herbst beginnen, also Oktober, November. Man kann aber auch im September schon anfangen. Der Gipfel der Erkrankungen war in den letzten Jahren immer im Januar oder im Februar. Man kann zwar auch noch im Januar impfen, aber der Aufbau der Immunität dauert immer zehn bis 14 Tage.
Gibt es auch Nebenwirkungen?
Potenzielle Nebenwirkungen sind Schmerzen an der Einstichstelle. Das kann zu einer Rötung oder leichten Schwellung führen. Darüber hinaus sind das relativ nebenwirkungsarme Impfungen, allenfalls Temperaturerhöhungen auf 37,5 Grad können vorkommen, aber systemische Reaktionen eigentlich nicht. Es gibt nur ganz wenige Ausnahmen, wenn man nicht impfen sollte: Wenn jemand eine Hühner-Eiweiß-Allergie hat, was extrem selten ist, sollte man die gängigen Impfstoffe nicht benutzen, da diese auf Hühnereiweißbasis hergestellt und gezüchtet werden. Inzwischen gibt es aber auch Zellkulturimpfstoffe, mit denen man diese Menschen auch immunisieren kann. Der Kinderimpfstoff ist ein abgeschwächter, noch lebender Erreger. Den darf man nicht geben, wenn jemand einen Immundefekt hat. Das wäre eine klassische Kontraindikation. Und wenn jemand eine akute Infektion hat, also mit 39 Fieber im Bett liegt, dann sollte der auch erst mal seine Erkrankung abheilen lassen und sich dann die Impfung holen.
Angeblich soll die Impfung auch vor Schlaganfällen schützen. Das zumindest behauptet die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe mit Verweis auf mehrere Studien.
Die Zahlen, die dazu veröffentlicht wurden, überraschen auf den ersten Blick, sind aber eigentlich sehr logisch. Wir verstehen Influenza immer als einen Defekt, der die Lunge betrifft, aber wir sehen ja auch an der Reaktion, Fieber, Abgeschlagenheit, Schüttelfrost , dass wir einen systemischen Infekt haben. Bei systemischen Infekten werden Entzündungskaskaden mit Botenstoffen in unserem Körper auf den Weg gebracht und wir wissen, dass auch Gefäßprozesse durch solche Botenstoffe getriggert werden können. Die Daten aus diesen Studien belegen, dass aus der Gruppe derjenigen, die nicht geimpft waren, die Rate an Schlaganfällen höher war, auch die Rate an Herzinfarkten. Botenstoffe im Rahmen dieser Entzündungsreaktion lösen bestimmte Plaques, die vielleicht schon vorhanden waren und die gehen dann in die Herzkranz- beziehungsweise Hirngefäße und können da einen Herzinfarkt oder Gehirnschlag verursachen.
In Extremfällen kann die Grippe zum Tod führen. Wird die Gefährlichkeit der Krankheit unterschätzt?
Die Grippe wird unterschätzt, weil sie eine relativ hohe Bandbreite an Symptomen bietet. Es gibt Leute, die setzen sich mit dem Erreger auseinander, erkranken gar nicht, entwickeln aber Antikörper und haben dadurch einen gewissen Schutz. Andere erkranken schwer und können daran sterben. Gerade Personen mit Immundefekten, begleitenden Erkrankungen oder die älter sind, haben die größten Risiken. Diese große Bandbreite macht es aber auch schwer, zu erkennen, ob die Erkrankten nun an der Influenza oder einer anderen Erkrankung verstorben sind. Bei der Spanischen Grippe 1917/18 sind beispielsweise die meisten an einer Lungenentzündung infolge der Influenza verstorben. Wir wissen, dass das Influenza-Virus den Weg bahnt für bakterielle Infektionen in der Lunge. Wenn wir gegen Influenza impfen, haben wir auch einen Schutz davor, dass sich eine Lungenentzündung den Weg bahnen kann. Ältere Menschen sollten sich deshalb auch gegen Pneumokokken, einen Erreger der Lungenentzündung impfen lassen.
Woran erkennt man, ob es wirklich eine Grippe oder doch nur ein grippaler Infekt ist?
Das ist manchmal auch für einen Mediziner schwer, zu unterscheiden. Im klassischen Fall geht die Influenza mit hohem Fieber und Schüttelfrost einher, mit Muskelschmerzen, sodass die Betroffenen richtig bettlägerig sind. Es gibt aber auch leichtere Spielarten, wo man das nicht genau differenzieren kann. Im Volksmund hat oft jeder, dem mal durch eine Erkältung die Nase läuft, gleich eine Influenza.
Das Interview führte Matthias Matern
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