
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Die Jahre des Wechsels
Politik in Zeiten des Umsturzes: Oppositionelle erinnern an die Wende
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Nach 25 Jahren ist Günther Rüdiger, Professor für Astrophysik, an den Ort zurückgekehrt, den er 1989 „befreien“ wollte. Doch diesmal sitzt er als Zeitzeuge auf dem Podium in der Gedenkstätte Lindenstraße. „Guten Tag, wir sind Familie Rüdiger, und wir möchten hier rein“ – mit diesen Worten begehrte er am Abend des 5. Dezember 1989 Einlass ins Stasi-Untersuchungsgefängnis. Und tatsächlich – das Tor ging auf, die Verantwortlichen ließen ihn und seine Begleiter hinein. „Was wir damals nicht wussten: Es war alles eine Inszenierung“, sagt Rüdiger heute.
Die politischen Gefangenen waren längst woanders untergebracht. Die restlichen sechs Häftlinge waren wegen Autoschieberei inhaftiert und hatten Apfelsinen und westdeutsches Parfüm auf den Zimmern. Die Stasi-Mitarbeiter empfingen die Demonstranten „zitternd“. „In dem Moment war ich umprogrammiert auf Trösten, das war ein Gegner, der schon am Boden lag“, sagt Rüdiger.
Jene Räume, die die Stasi als Gefängnis und Verhörzentrale nutzte, sind heute Orte des Gedenkens. „Von der Diktatur zur Demokratie: Das Jahr 1990“ lautete der Titel der Podiumsdiskussion, zu der das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und die Gedenkstätte Lindenstraße im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Menschen unter Diktaturen“ einluden. Vertreter der damaligen Bürgerrechtsbewegungen und der neuen Parteien berichten, wie sich die Revolution von der Straße in die Machtzentren der Politik ausweitete, wie alte Strukturen gestürzt, neue aufgebaut wurden und was das für Potsdam bedeutete.
„Wir rannten den Ereignissen hinterher“, erzählt Thomas Wernicke, der sich damals im Neuen Forum engagierte und heute als Leiter des Bereichs Ausstellungen am Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte arbeitet. „Wir wollten Politik machen“, sagt Anke Michalske-Acioglu, heute Stadtverordnete der SPD. Doch wie kann Politik funktionieren, wenn ein System stürzt, wenn es an Räumen, Einrichtungen, Geld, etablierten Parteistrukturen, einer funktionierenden Verwaltung, einfach an allem fehlt? Wenig Schlaf, neben Job und Familie Unmengen an freiwilliger Arbeit – so sah das Leben der Oppositionellen zunächst aus. Im Januar 1990 ist zumindest das Raumproblem gelöst. Aus dem ehemaligen Gefängnis wird das „Haus der Demokratie“. Die neu gegründete Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP), Neues Forum und andere oppositionelle Gruppen halten Einzug, übernehmen Räume, Möbel und das funktionierende Telefonnetz – inklusive der alten Nummern. Das habe durchaus zu kuriosen Situationen geführt, sagt ZZF–Historikerin Jutta Braun. In den ehemaligen Stasi-Räumen bereiten die zukünftigen Vertreter des Volkes die erste freie Wahl in der DDR vor.
Nach dem Wendeherbst 1989 starteten die Bürgerbewegungen und neuen Parteien ins Superwahljahr 1990. „Wir waren Tag und Nacht unterwegs, sind in die Hochhäuser und haben mit den Leuten geredet“, erinnert sich Michalske-Acioglu, die 1989 als eine der ersten Frauen in die SDP eintrat. Besucher unterstützen die neuen Demokraten in der damaligen Otto-Nuschke-Straße mit Sach- und Geldspenden. Aus Westdeutschland kommt Aufbauhilfe – Computer und andere technische Geräte – und auch Nachhilfe in bundesdeutscher Verwaltung.
Abseits der politischen Umwälzungen tat sich auch für den Wissenschaftler Günther Rüdiger mit der Wende eine neue Welt auf. Liebevoll spricht er von seinen „Wechseljahren“, wenn er an die Zeit des Aufbruchs und Neubeginns zurückdenkt. „Die Hälfte aller Mitarbeiter am Institut gehörte sonstwohin, aber nicht in die Wissenschaft“, stellt er klar. International isoliert, staatsnah, ohne Leistungsprinzip – so habe Wissenschaft in der DDR ausgesehen. Das Institut wagte den Neubeginn, aus dem Zentralinstitut für Astrophysik wurde am 1. Januar 1991 das Astrophysikalische Institut Potsdam. „Ein Teil der Mitarbeiter hatte Angst vor der Internationalisierung, der andere freute sich darauf“, so Rüdiger.
Heike Kampe
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