Homepage: „Die Kuh ist noch nicht vom Eis“
Prof. Dietmar Sturzbecher über Optimismus, Identitätssuche und Resignation bei der Jugend
Stand:
Die Jugend des Landes ist nach Ergebnissen der „Brandenburgischen Jugendstudie“ grundsätzlich zuversichtlicher geworden. Fast 60 Prozent sehen ihre berufliche Zukunft eher optimistisch. Eine erfüllende Arbeit ist für junge Brandenburger erstmals wichtiger als Lebensgenuss. Die PNN sprachen mit dem Verfasser der Studie, Prof. Dietmar Sturzbecher, der das Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung an der Universität Potsdam leitet.
Herr Sturzbecher, Sie ziehen grundsätzlich eine positiver Bilanz. Ist die Kuh also vom Eis?
Die Jugend wird in öffentlichen Debatten meist sofort mit Problemen in Verbindung gebracht, das heißt sie hat Probleme oder verursacht sie. Dies täuscht darüber hinweg, dass der größte Teil der Jugendlichen sich an die Regeln des Zusammenlebens hält und sich dabei leistungsbereit und kreativ weiterentwickelt. Allerdings brauchen Jugendliche genauso wie Erwachsene Hilfe bei Übergängen im Leben, also beispielsweise beim Einstieg in eine Ausbildung oder in einen Beruf. Hier ist noch viel zu tun. Insofern ist die Kuh noch nicht vom Eis.
40 Prozent der Jugendlichen glauben nun, des „eigenen Glückes Schmied“ zu sein, 12 Prozent mehr als 1999. Ein erstaunliches Ergebnis angesichts der eher doch eher pessimistischen Zukunftsprognosen für Brandenburg.
Der von Ihnen geschilderte Effekt beruht weitgehend auf der Altersgruppe, die im Zeitraum von 1989 bis 1993 geboren wurde. In diesem Zeitraum fiel in Brandenburg die Geburtenrate auf einen historischen Tiefststand, wie man ihn in Europa noch nicht erlebt hatte. Wer sich in dieser Zeit im Angesicht unsicherer wirtschaftlicher Verhältnisse zur Familiengründung und für ein Kind entschied, brauchte Optimismus und Zuversicht in die eigene Kraft. Offensichtlich haben die in dieser Zeit geborenen Kinder die elterlichen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster übernommen.
Wo drückt der Schuh derzeit am stärksten?
Am bedrückendsten ist die Tatsache, dass es neben den positiven Trends und der großen Gruppe der Jugendliche, auf die wir stolz sein können, auch eine kleine, aber wachsende Zahl von Jugendlichen gibt, deren Lebensalltag durch Überforderung, Ohnmacht und Resignation oder sogar durch Gewalt und Extremismus geprägt ist.
Sie stellen Polarisierungstendenzen fest. Die Schere geht immer weiter auf, mit der Gruppe der Optimisten wächst etwa auch die derjenigen, die sich selbst aufgeben. Eine besorgniserregende Tendenz?
Auf jeden Fall, denn Fatalismus und Resignation schlagen bei diesen Jugendlichen leicht um in Depression oder Delinquenz. Mit anderen Worten: Wenn die Handlungspotenziale von Menschen und insbesondere von Jugendlichen nicht konstruktiv gefordert werden, besteht eine große Gefahr, dass man krank oder kriminell wird. Menschen brauchen Hürden und Banden.
In fast allen Bereichen bleibt ein Bodensatz von etwa drei bis fünf Prozent, der aus der Gesellschaft heraus fällt. Gleichzeitig wandern aber die Begabten ab. Wie kann man hier entgegen wirken?
Gefragt sind zielgruppenbezogene Präventionsprogramme, die sinnvolle Herausforderungen und angemessene soziale Kontrolle verbinden. Nicht alle Jugendlichen brauchen Unterstützung oder Kontrolle und vor allen Dingen nicht ständig. Viel mehr müssen wir unsere Aufmerksamkeit und knappen Ressourcen auf diejenigen konzentrieren, die sich nicht selbst helfen können.
Der Familie wird ein großer Stellenwert beigemessen. Familiengründung wird als sehr wichtiges Lebensziel angegeben, 90 Prozent wollen der Studie zufolge Kinder. Vollzieht sich hier ein umfassender Wandel?
Nein. Das Problem ist nicht, dass es bei Heranwachsenden am Kinderwunsch fehlt, sondern, dass viele Jugendliche mit dem Älterwerden wachsende Zweifel haben, ob sie ihre Kinder selbständig versorgen können. Für die Verwirklichung des Kinderwunsches sehen sie einen sicheren Job, eine feste Partnerschaft und ein ausreichendes Einkommen als sehr wichtige Voraussetzung an. Die Abwägung, ob man ein Kind gegebenenfalls aus eigener Kraft materiell und emotional versorgen kann, zeugt aus meiner Sicht nicht von sozialer Verantwortungsabwehr, sondern von Verantwortungsbewusstsein. Früher sah das übrigens auch der Staat so: In einigen deutschen Regionen gab es bis 1871 Eheverbote für wirtschaftlich unselbständige Personen.
Fast die Hälfte der Befragten sieht seine Zukunft jedoch an einem anderen Ort.
Zu allen Zeiten gab es Menschen, die aus wirtschaftlicher Not oder auch aus Abenteuerlust ihre Heimat verließen, um woanders ihr Glück zu suchen, denken wir an die Auswanderungswellen nach Amerika im 19. Jahrhundert. Oft waren diese Menschen eben nicht der heimatvergessene Bodensatz der Gesellschaft, sondern gut ausgebildet und voll Zuversicht, sich anderswo unter besseren Bedingungen eine Existenz aufbauen zu könen. In ähnlicher Weise verlassen heute gerade junge und gut ausgebildete Frauen die Regionen in Brandenburg, in denen keine Zukunftsperspektive erkennbar ist.
Zu wenige attraktive Freizeitangebote sowie die nachlassende Verbundenheit mit dem Heimatort werden als Gründe genannt. Ist Verwurzelung überhaupt noch zeitgemäß?
Auf jeden Fall, denn aus diesen Wurzeln kann man Kraft auch bei Rückschlägen im Leben und Unterstützung gewinnen. Wer gründet eine Familie, wenn er ständig auf gepackten Koffern lebt oder mit dem Partner eine Wochenendehe über mehrere hundert Kilometer führt? Ein entscheidender Punkt ist, wie die wirtschaftliche Zukunft der Heimatregion beurteilt wird; darüber hinaus spielen für Jugendliche natürlich die Möglichkeiten für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung eine Rolle.
Wie müssen die Kommunen auf die Abwanderung reagieren?
Das kann man nicht mit einem Satz beantworten. Auf jeden Fall muss man den Jugendlichen genau erklären, welche wirtschaftlichen Vorteile auch ein Verbleiben in der Region haben könnte und dass man auch in ländlichen Regionen nicht auf kulturelle Angebote und Freizeitmöglichkeiten verzichten muss.
Die Mehrheit der Jugendlichen (56 Prozent) sieht bezüglich der Attraktivität der brandenburgischen Schulen noch Optimierungsbedarf. Woran fehlt es den Schulen?
Jugendliche wünschen sich Schulen, die ihnen einen Lebensraum bieten, in dem man Erfolg, Spaß und Mitbestimmung erleben kann. Dies wird noch nicht an jeder Schule ausreichend respektiert.
Sie stellen einen leichten Zuwachs beim „harten Kern“ gewaltbereiter Jugendlicher fest, ansonsten geben sie aber Entwarnung.
Grundsätzlich ist man hier auf dem richtigen Weg. Die Trends bei der großen Mehrheit der Jugendlichen zeigen, dass die vielfältigen Anstrengungen zur Konflikt- und Demokratieerziehung greifen. Dies gilt offensichtlich nicht für die kleine Gruppe der hoch gewaltbereiten Intensivtäter, bei denen oft auch ein extremistischer Hintergrund zu erkennen ist. Hier müssen frühzeitig Grenzen aufgezeigt und konsequent verteidigt werden. Darüber hinaus brauchen Täter dann auch eine zweite Chance, denn die allermeisten Jugendlichen, die mit 14 als gewaltbereit auffallen, zeigen sich zwei Jahre später friedfertig. Unsere Studien haben gezeigt, dass Gewaltbereitschaft, Ausländerfeindlichkeit und Extremismus bei den meisten Jugendlichen ein Durchgangsphänomen ist.
Brandenburgs Jugend leidet immer mehr unter wirtschaftlichen Problemen im Elternhaus. Mit welchen Folgen?
Viele Menschen, die in wirtschaftlicher Not erwachsen werden mussten, haben trotzdem im Leben viel erreicht und sind stolz darauf. Prinzipiell ist aber davon auszugehen, dass wirtschaftliche Probleme im Elternhaus erstens dazu führen, dass junge Menschen ihre Talente und Lebenschancen nicht optimal verwerten können. Dies macht unzufrieden und führt dazu, die gesellschaftliche Ordnung abzulehnen, von der man eingegrenzt wird. Zweitens neigen Eltern, die durch eigene Probleme im Beruf oder in der Partnerschaft belastet werden dazu, insbesondere jüngere Jugendliche im Stich zu lassen.
Welche Gefahr birgt das?
Man erklärt die „Halbwüchsigen“, die ihre Selbständigkeit auch immer wieder einfordern, für erwachsen. Dabei wird leicht übersehen, dass gerade diese Altersgruppe große Entwicklungsaufgaben bewältigen muss und deshalb besondere Unterstützung braucht, denken wir beispielsweise an die Ablösung von den Eltern und den Aufbau einer eigenen Identität. Jugendliche müssen ihre Rolle als Berufstätige, Partner, Konsumenten und politische Bürger erlernen und spielen; und das überfordert auch manchen Erwachsenen.
Das Interview führte Jan Kixmüller
Dietmar Sturzbecher
ist Professur für Familien-, Jugend- und Bildungssoziologie an der Universität Potsdam und leitet das Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung.
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