Landeshauptstadt: Die letzten Tage der Karin Pätzold
Der Weg von der Arbeit führte in den Tod. Die Geschichte einer medizinischen Behandlung „lege artis“ – nach den Regeln der Kunst
Stand:
Ein junger Mann betritt die Zeppelinstraße. Er kommt aus einer Toreinfahrt, überquert den kombinierten Geh- und Radweg und bleibt am Straßenrand stehen. Es ist nur ein kurzer Moment des Innehaltens, vielleicht zwei Sekunden, vielleicht weniger. Es ist der letzte Moment, von dem aus die Zukunft noch einen anderen Verlauf nehmen könnte. Aus der unendlichen Vielzahl seiner Möglichkeiten wählt das Schicksal an diesem Nachmittag des 4. August 2005 eine Variante, die nach einer langen Kette von Ursachen und Wirkungen zum Tod der 51-jährigen Potsdamerin Karin Pätzold führen wird.
Um 16.10 Uhr dreht sich der Mann abrupt um und geht los. Eine Ampel an der Ecke springt auf gelb-grün, vielleicht will er sie noch erreichen? Er überrennt die Fahrradfahrerin nahezu, Karin Pätzold stürzt und fällt auf das rechte Bein. Vor Gericht wird der Mann aussagen, er sei an der Hauswand gelaufen und die Frau sei ihm in den Rücken gefahren. Die Richter glauben ihm nicht, er muss 1500 Euro Bußgeld zahlen. Doch nicht ihm gibt Witwer Ralf Pätzold die Schuld am Tod seiner Frau. Es ist das Klinikum „Ernst von Bergmann“, gegen das er Strafanzeige gestellt hat wegen fahrlässiger Tötung zum Nachteil seiner Frau. Im städtischen Klinikum verbringt Karin Pätzold ihre letzten Lebenstage. Dort vollziehen sich „Merkwürdigkeiten“, die sich „wie ein roter Faden durchziehen“ und um deren Aufklärung Ralf Pätzold bis heute ringt.
Der Unfallverursacher ruft den Rettungswagen, der die Verletzte in das nächst gelegene Krankenhaus bringt, das katholische St. Josefs-Krankenhaus in der Straße Am Grünen Gitter. Die Ärzte diagnostizieren eine Tibiakopffraktur, einen Knietrümmerbruch. Karin Pätzold weiß, dass die Heilung schmerzhaft und langwierig wird. Ihr eben erlittener Unfall ist für sie aber im Moment nicht mehr und nicht weniger als ein großes Ärgernis: „Mich hat so ein Idiot von Fußgänger vom Fahrrad gerissen“, erklärt sie ihrem Mann am Telefon. Als dieser ins Krankenhaus kommt, liegt seine Frau in einem Krankenbett, das rechte Bein ist eingegipst und mit Hilfe einer Lagerungsschale hochgelegt. Über einen Tropf bekommt sie Schmerzmittel. Eine Schwester steht am Bett und notiert die Allergien der Patientin. Sie begutachtet auch die stark ausgeprägten Venen an dem unversehrten Bein und verordnet Stützstrümpfe. Wenn Ralf Pätzold zu diesem Zeitpunkt auch nur geahnt hätte, wie die Krankengeschichte seiner Frau ausgehen wird, er hätte sich alles haarklein notiert. So aber muss er sich mit den zufälligen Bildern der Erinnerung begnügen. Er sieht seine Frau auf der linken Bettseite aussteigen, und mit Gehhilfen um das Bett herumhüpfen und von rechts wieder einsteigen. Immer wieder soll sie diese Übung wiederholen, zur besseren Durchblutung der Beinvenen.
Noch am Donnerstag, dem 4. August, kommt ein Arzt an das Bett Karin Pätzolds und erklärt, sie werde am Montag, dem 8. August, operiert. Das Knie werde mit Schrauben fixiert, nach einem Jahr kämen die Schrauben wieder raus; sie werde ein halbes Jahr arbeitsunfähig sein. Indes versucht das St. Josefs-Krankenhaus vergeblich, jemanden bei der Unfallkasse Brandenburg zu erreichen, die deshalb für die Kostenerstattung zuständig ist, weil Karin Pätzold auf dem Weg von der Arbeit nach Hause war, als der Unfall passierte. Die Unfallkasse hat zur Behandlung ihrer Patienten Verträge mit speziellen Krankenhäusern abgeschlossen, auch mit dem Bergmann-Klinikum, nicht aber mit dem St. Josefs-Krankenhaus. Am Abend schickt das Krankenhaus ein Fax an die Unfallkasse in Frankfurt (Oder), nach Aussage des Ehemannes Ralf Pätzold abgefasst in dem Tonfall, die Patientin weigere sich strikt, sich ins Bergmann-Klinikum verlegen zu lassen, sie sei auch im St. Josefs gut aufgehoben. Am Abend telefoniert Ralf Pätzold mit der Rettungsstelle des St. Josefs-Krankenhauses. Tenor des Telefonats: Wir sind am Drehen, dass ihre Frau bei uns bleiben kann, aber wir haben noch immer niemanden erreicht.
Tags darauf setzt sich die Unfallkasse durch. Karin Pätzold wird vom St. Josefs-Krankenhaus vor die Wahl gestellt, entweder einer Verlegung zuzustimmen oder später gegebenenfalls auf den Behandlungskosten sitzen zu bleiben. So willigt sie ein, widerwillig, gezwungenermaßen. Am 5. August, 18 Uhr, wird die Patientin ins Bergmann-Klinikum gebracht, „mit den gleichen Sanitätern, die sie tags zuvor eingesammelt haben“, sagt Ralf Pätzold. Später wird ein Gutachter des Unfallverursachers vor Gericht aussagen, dass das St. Josefs-Krankenhaus medizinisch in der Lage gewesen wäre, Karin Pätzold adäquat zu behandeln.
Noch im Nachgang wird deutlich, wie Krankenhaus und Unfallkasse Mühlsteine sind, zwischen denen die Patientin keine Chance hat, ihre Position durchzusetzen. Adelheid Lanz, Geschäftsführerin des St. Josefs-Krankenhauses, versucht, den Druck, den ihr Haus von der Unfallkasse bis zur Patientin weitergeleitet hat, zu rechtfertigen: In jedem Fall, in dem eine Behandlung möglich ist, werde versucht, eine Kostenübernahme durch die Unfallkasse zu erwirken. „Dies gelingt uns eher selten bis gar nicht.“ Wenn die Kostenverhandlungen zu lange dauerten, passiere es auch, „dass wir die Behandlung erbringen und die Leistungen dann nicht vergütet werden“. Die Krankenhaus-Chefin: „Das ist bitter!“
„Wir können sie nicht zwangsverlegen“, entgegnet André Preusche, Abteilungsleiter bei der Unfallkasse. Die Patientin hätte im St. Josefs-Krankenhaus bleiben können – mit dem Risiko einer nicht optimalen Behandlung. Dass aber die Patientin dann die Kosten der Behandlung übernehmen müsse, sei Preusche zufolge „gänzlich ausgeschlossen“.
Diese Aussage findet St.Josefs-Geschäftsführerin Lanz „interessant“: Dann hätte die Patientin im Krankenhaus ihrer Wahl bleiben und die Rechnung direkt an die Unfallkasse weiterleiten können. „So einfach ist es wohl nicht.“ Die Kasse stelle sich patientenfreundlich dar. Adelheid Lanz erklärt: „Selbstverständlich weisen wir in einem solchen Verfahren die Patienten darauf hin, dass die Unfallkasse die Kostenübernahme für unser Haus abgelehnt hat und wir daher gezwungen sind, die Rechnung an die Patienten direkt zu stellen. Aus Angst vor dieser finanziellen Belastung bleibt den Patienten dann nichts anderes übrig, als der Verlegung zuzustimmen. Wir bedauern dies sehr.“
Auch Ralf Pätzold bedauert das. Er geht „definitiv“ davon aus, dass seine Frau ohne die Verlegung ins Klinikum noch leben „könnte“. Auf diese Vorstellung will sich Adelheid Lanz nicht einlassen: „Es gibt immer schicksalshafte Verläufe.“
Im Klinikum ist zunächst ebenfalls für Montag, den 8. August, eine Operation geplant. Sie wird dann jedoch auf Freitag, den 12. August, verlegt. „Meine Frau hat geschimpft wie ein Rohrspatz wegen der Verlegung“, sagt Ralf Pätzold. Stattdessen erhält Karin Pätzold am Montag in einem 24-minütigen Eingriff einen „Fixateur externe“ – statt einer inneren Verschraubung, mit der sie sich hätte bewegen können, eine äußere Konstruktion, die das Knie stabil hält. Im OP-Bericht wird stehen, dass die Operation bei Vollnarkose stattfand. Die Hinterbliebenen sind sich jedoch sicher, dass die Operation bei örtlicher Narkose vorgenommen wurde. Karin Pätzold berichtet tags darauf am Dienstag, dem 9. August, ihrer Tochter Anke Details der Operation. So habe sie nichts sehen können, weil ein Tuch ihr den Blick auf ihr verletztes Knie versperrte. Die Tochter kann sich gut daran erinnern, denn der 9. August ist ihr Geburtstag. Ralf Pätzold sagt, seine Frau hätte nur widerstrebend einer Vollnarkose zugestimmt, denn sie sei Jahre zuvor bei einer Blinddarm-Operation beinahe nicht wieder wach geworden.
Der Fixateur externe, angebracht, damit Entzündungen und Einblutungen abheilen können, fixiert nicht nur das Knie, sondern die ganze Patientin. Sie darf nicht aufstehen und bekommt für die Notdurft einen Schieber. Wie Ralf Pätzold erklärt, kam die Schwester gelegentlich auch dann mit dem Schieber, wenn ihre Bettnachbarin gerade beim Mittagessen war. Karin Pätzold liegt Tag und Nacht und bekommt laut Krankenakte aufgrund ihrer starken Venenerkrankung blutverdünnende sowie entzündungshemmende Mittel. Mindestens einmal jedoch nicht: In der Ermittlungsakte findet sich die Aussage, wonach Karin Pätzold im Gegensatz zu ihrer Bettnachbarin am 14. August nicht die übliche Spritze bekam. Darauf angesprochen habe die Schwester geantwortet, warum, wisse sie nicht.
Auch Kühlbeutel werden gereicht – in einem Fall auch geworfen. Ralf Pätzold fängt ihn auf und hört den an Karin Pätzold gerichteten Satz, den Beutel zu positionieren „kann ihr Mann ja mal machen.“
Im Klinikumsflur hängt ein Plakat mit der Überschrift: „Was ist eine Thrombose?“ Die Frage wird beantwortet, es handelt sich um eine Gefäßkrankheit mit der Gefahr eines sich von den Venen ablösenden Blutgerinnsels, welches im schlimmsten Fall eine Lungenembolie auslöst, die Verstopfung eines Blutgefäßes in der Lunge. Ein potenziell immer lebensgefährliches Szenario. Auf dem Plakat werden zudem die Risikofaktoren einer Thrombose aufgezählt: Fettleibigkeit, Immobilisation, Krampfadern, ein Knochenbruch „Da standen zwölf Kriterien und acht hat sie erfüllt“, sagt Jan Pätzold, der Sohn der Patientin. Karin Pätzold wiegt bei einer Körpergröße von 1,64 Meter 101 Kilogramm, sie liegt tagelang im Krankenbett und sie hat deutlich erkennbare Krampfadern, „an denen kam niemand vorbei“, sagt ihr Mann. Er fügt hinzu, aus Lebenserfahrung: „Eine Gefahr, die ich erkannt habe, ist keine mehr“.
Auch die für Freitag, den 12. August, geplante Operation wird verschoben. Begründungen werden ihr den Hinterbliebenen zufolge nicht genannt. Jan Pätzold: „Da wird nicht viel geredet mit den Patienten.“ Als nächsten OP-Termin legen die Klinikums-Ärzte Dienstag, den 16. August, fest. Am Abend des 16. August hätte Karin Pätzold auf einen elftägigen Klinikumsaufenthalt zurückblicken können. Die Leitung des kommunalen Großkrankenhauses verweist an anderer Stelle gern auf eine durchschnittliche Verweildauer ihrer Patienten von acht bis neun Tagen. Den Abend des 16. August erlebt Karin Pätzold nicht mehr, auch wenn sie die Ärzte erst tags darauf für tot erklären.
Fünf nach acht am Morgen versucht Frank Pätzold, mit seiner Frau zu telefonieren. Sie geht nicht ans Telefon. Fünf nach halb neun ruft ein Arbeitskollege an. Er solle sich im Krankenhaus melden, „die wollen irgendwas von dir“. Pätzold telefoniert zunächst mit der Station C3, auf der Karin Pätzold liegt. Er vernimmt: „Da ist was gewesen in der Nacht. Rufen Sie “mal auf der Intensivstation an.“ Dort sagt eine Ärztin, er solle „“mal ganz schnell kommen“. Sie sagt nicht, warum.
Parallel meldet sich ein Arzt bei Sohn Jan Pätzold. Es habe heute Nacht eine Komplikation gegeben. Das Wort Embolie sei gefallen, erinnert dieser sich an das Gespräch mit dem Arzt, aber es habe „alles sehr harmlos geklungen“.
Vater und Sohn treffen sich in der Wohnung der Pätzolds. Der Sohn befürchtet das Schlimmste, „Mutter liegt im Sterben“, erklärt er dem Lebensgefährten seiner Schwester am Telefon. Anke Pätzold solle sofort ins Klinikum kommen. Deren Freund wiegelt noch ab, schließlich habe Karin Pätzold nur ein kaputtes Knie, „nun übertreib mal nicht, daran stirbt niemand“. Aber Jan Pätzold besteht auf seine Menschenkenntnis: „Wenn ein Arzt, den ich etwas Konkretes frage, solche Ausflüchte macht“, dann „sage ich, Nachtigall, ich hör“ dir trapsen.“
Der 16. August ist wieder als Tag für die große Operation vorgesehen, die innere Verschraubung des Knies. Es ist der achte Tag nach Anbringung des Fixateur externe, einen Tag später, als die Operateure im OP-Bericht mit fast seherischer Kraft als spätesten Termin dafür festlegten – die „definitive Osteosynthese in 5 bis 7 Tagen“.
Eintrag in der Krankenakte: „Patientin freut sich, dass sie heute operiert wird.“ Die Thrombose-Prophylaxe wurde tags zuvor eingestellt. Laut Ermittlungsakte versucht Karin Pätzold um 5.25 Uhr auf Toilette zu gehen und bricht im Flur zusammen. Ihre Bettnachbarin berichtet später von einem anderen Geschehen: Demzufolge wälzt sich Karin Pätzold im Bett und macht vergebliche Versuche aufzustehen. Die Bettnachbarin klingelt nach der Schwester, diese fährt Karin Pätzold in ihrem Bett auf den Flur. „Mehr wissen wir nicht“, sagt ihr Mann. Und dass sie das weiß, verdankt die Familie einem späteren zufälligen Zusammentreffen Jan Pätzolds mit der Bettnachbarin.
Doch er versäumt, sich ihren vollständigen Namen und ihre Adresse geben zu lassen. Die Staatsanwaltschaft benötigt ihre Aussage. Am 17. Juli dieses Jahres teilt das Bergmann-Klinikum dem mit der Klage Ralf Pätzolds befassten Staatsanwalt Gerd-Götz Heininger mit, dass die Patientin, die mit Karin Pätzold Anfang August 2005 auf Zimmer 308 gelegen hat, nicht „namhaft gemacht werden konnte“. Belegungsnachweise, aus denen hervorgeht, wer mit wem zu einer bestimmten Zeit zusammen untergebracht war, würden nicht geführt. Der Staatsanwalt bittet Ralf Pätzold, mit eigenen Erkenntnissen zu helfen. Dieser informiert, dass die Bettnachbarin auch Karin heißt und sie ebenso wie Karin Pätzold am 20. November Geburtstag hat. Diese Gemeinsamkeiten war Gesprächsthema der beiden Patientinnen. „Mit diesen Hinweisen werden wir die Frau finden“, erklärte Staatsanwalt Heininger den PNN. Ralf Pätzold erhofft sich von ihrer Aussage Aufklärung: Dass Karin Pätzold auf dem Flur auf dem Weg zur Toilette zusammenbrach, hält er für unglaubwürdig. Sie hätte, um selbst auf die Toilette gehen zu können, den Dauerkatheter samt Urinbeutel abmachen und sich Krücken besorgen müssen. „Sie hatte keine, denn sie war bewegungsunfähig.“ Den Widerspruch wischen den Angaben der Ermittlungsakte und dem Bericht der Bettnachbarin will Ralf Pätzold auflösen. Es geht um die dramatischen Minuten, in denen das Schicksal die letzte Weiche im Leben Karin Pätzolds stellt. War der Tod unausweichlich? Wurde alles für seine Frau getan?
Laut Krankenakte kommt Karin Pätzold um 6 Uhr in der Intensivstation an. Ebenfalls gegen 6 Uhr wird sie laut Dokumentation intubiert. Eine Intubation bezeichnet das Einführen eines Schlauches über Mund oder Nase zur Sicherung der Atemwege. Warum vergehen 35 Minuten zwischen Kollaps und Intubation?
Vater und Sohn treffen in der Intensivstation ein. Im Warteraum erfahren sie von einer Ärztin, dass Karin Pätzold infolge einer Thrombose eine Lungenembolie erlitten hat. Längere Zeit sei es zur Unterversorgung des Gehirns gekommen. „Das Gehirn hat sehr stark gelitten“, sagt die Ärztin. Die ersten Zeichen einer Hirntod-Diagnostik seien da. Das Gehirn sei stark angeschwollen. Noch am 16. August fragt die Ärztin, ob es Verfügungen Karin Pätzolds hinsichtlich einer Organspende gibt. Ralf Pätzold erinnert sich, seine Frau habe einmal sinngemäß gesagt, wenn im Falle eines Falles von ihr noch jemand etwas gebrauchen könne, dann gerne. Aber er sagt nicht sofort zu, er will sich erst mit seinen Kindern beraten.
Am Nachmittag wird Ralf Pätzold zu Hause am Telefon gefragt, ob er sich eventuell schon wegen einer Organspende entschieden hat. Am Abend des 16. August gehen Tochter und Sohn erneut ins Klinikum. Diesmal sprechen sie einen Arzt, bei dem sich die Dinge völlig anders anhören. Karin Pätzold habe ein starkes Gehirnödem „Reden Sie nicht um den heißen Brei, wir wissen, dass sie hirntot ist“, erwidert Jan Pätzold ungehalten. Sinngemäß entgegnet der Arzt, man solle nicht alles so schlimm sehen, es bestehe die Möglichkeit, sie als Schwerstpflegefall entlassen zu können. Sie werde aber nie wieder aktiv am Leben teilnehmen.
Aus dem, was der Arzt sagt, schließen Anke und Jan Pätzold, dass Karin Pätzold nicht hirntot ist. Die ungeheure Differenz in den Aussagen von Arzt und Ärztin erkennen die Hinterbliebenen genau. Jan Pätzold: „Das waren Welten, von ,sie wird sterben“ bis ,Schwerstpflegefall““. Ralf Pätzold: „Sechs Stunden vorher kriegt man gesagt, Schluss, aus, Ende – und jetzt auf einmal so.“ Automatisch kommen den beiden Männern Überlegungen, wie sie Pflege und Beruf vereinbaren können.
Am 17. August hat wieder die Ärztin Dienst. Am Morgen klingelt bei Ralf Pätzold das Telefon: Ob er wegen der Organspende schon einen Entschluss gefasst habe Er verabredet sich mit der Ärztin zu 15 Uhr auf der Intensivstation. Als er dort erfährt, dass auch trotz einer Organspende eine Obduktion stattfinden kann, willigt er in die Organentnahme ein.
Zu den Angewohnheiten Ralf Pätzolds gehört es, häufig auf die Armbanduhr zu schauen. Um 15.20 Uhr stimmt er der Organspende zu „und präzise um 15.30 Uhr kam die Ärztin wieder und sagt, ich habe ihre Frau für tot erklärt“.
„Wir haben mit unserer Einwilligung für die Organentnahme den Startschuss dafür gegeben“, sagt Jan Pätzold. Er ist sich sicher: Wenn sie sich für die Frage der Organspende noch einen Tag Bedenkzeit erbeten hätten, würden die Familie heute den 18. August und nicht den 17. als Todestag Karin Pätzolds begehen. Im Nachhinein fühlt sie sich schlecht informiert, ein Hinweis auf eine Beratungsstelle zum Thema Organspende war unterblieben. Fragwürdig erscheint den Pätzolds, dass sie noch vor dem erklärten Tod von Karin Pätzold drei Mal auf eine Organspende angesprochen wurden.
Auch die Minuten, in denen Klinikumsärzte den Tod Karin Pätzolds feststellen, werfen Fragen auf: Paragraph 5 des Transplantationsgesetzes verlangt, dass zwei Ärzte den Organspender unabhängig voneinander untersuchen. Folgerichtig geben bei Karin Pätzold zwei Ärzte die Ergebnisse ihrer medizinischen Hirntod-Diagnostik zu Protokoll – allerdings hintereinander auf ein und dem selben Papier. Dazu sagt Jan Pätzold: „Der zweite sieht, was der erste geschrieben hat und das darf nicht sein.“ Kommt der zweite Arzt zu einem anderen Ergebnis als der erste, sieht er anhand des gemeinsamen Protokolls, dass er sich in Opposition zu der Ansicht seines Kollegen befindet. Im Transplantationsgesetz heißt es: „Die Feststellung der Untersuchungsergebnisse und ihr Zeitpunkt sind von den Ärzten unter Angabe der zugrundeliegenden Untersuchungsbefunde jeweils in einer Niederschrift aufzuzeichnen und zu unterschreiben.“ – Jeweils in einer Niederschrift.
Auf PNN-Anfrage nach Thrombose-Prophylaxe, OP-Terminverschiebungen, Liegezeiten, Geschehen am Morgen des 16. August 2005, Reanimation, Hirntod-Diagnostik und Protokollierung, teilte Angelika Latt von der Leitung des Bergmann-Klinikums Folgendes mit: Sie, der Chefarzt für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie und die Justitiarin drücken zunächst ihr tiefes Bedauern über den unglücklichen Verlauf der Behandlung von Karin Pätzold aus. Dessen ungeachtet versichern sie und unterstreichen, dass „die Patientin durchgehend adäquat und nach den Regeln der ärztlichen Kunst im Klinikum Ernst von Bergmann behandelt wurde und im Zuge der Behandlung die bereits im St.-Josefs-Krankenhaus begonnene Thrombose-Prophylaxe bei der Patientin lege artis fortgesetzt wurde.“ Auch die physiotherapeutische Behandlung und Mobilisierung der Patientin sei „lege artis“ erfolgt – nach den Regeln der Kunst. Im Weiteren geht das Klinikum lediglich auf die juristische Auseinandersetzung mit dem Witwer Ralf Pätzold ein.
Am Ende der Klinikumsmitteilung heißt es: „Zu weiteren Punkten nehmen wir nicht Stellung“.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: