
© Georg-Stefan Russew
Landeshauptstadt: „Die Leute sollen raus aus der Opferrolle“
Attila von Unruh, Gründer der Anonymen Insolvenzler, über Stigmatisierung und mangelnde Beratung
Stand:
Herr von Unruh, seit Kurzem gibt es in Potsdam eine Selbsthilfegruppe Anonyme Insolvenzler. Insgesamt gibt es 14 solcher Gruppen in Deutschland, die erste haben Sie 2007 in Köln gegründet. Warum?
Ich war selbst betroffen. Ich hatte meine eigene Firma verkauft und geriet aufgrund von Bürgschaften nachträglich in die Insolvenz. Und spürte sehr bald: Was fehlt, ist eine richtige Beratung für Menschen in so einer Situation.
Die bekommt man bei den Anonymen Insolvenzlern?
Wir bieten Information und Beratung in allen Dingen, die mit einer Insolvenzsituation zusammenhängen. Vor allem aber bieten wir einen geschützten Raum, in welchem sich Betroffene austauschen können. Von Sorgen und Erfahrungen berichten – ohne dass sie dafür bewertet oder verurteilt werden. Es gibt dort keine mahnenden Worte, weil jemand sagt: „Mensch, ich hab die Steuererklärung einfach nicht abgegeben.“ Es geht nicht um Schuld. In eine solche Notlage zu geraten, das kann jedem passieren. Auch wenn es sicherlich immer einen eigenen Anteil an so einer Entwicklung gibt. Aber die Leute sollen raus aus dieser Opferrolle.
Wie rutscht man in so etwas hinein?
Man unterscheidet bei der Insolvenz zwischen Unternehmern und dem einzelnen Verbraucher. Der wird vielleicht plötzlich arbeitslos und kann die laufenden Forderungen nicht mehr bedienen. Und weil er eh schon einen gering bezahlten Job hatte, konnte er auch keine Rücklagen bilden. Die Leistungen vom Arbeitsamt fangen das nicht auf. Oft lösen auch lange Krankheits- und Pflegezeiten oder Todesfälle in der Familie finanzielle Krisen aus. Und dann gibt es die Unternehmer, kleine Handwerksbetriebe oder große Firmen. Da gibt es auch untereinander Auswirkungen. Der kleine Fliesenleger übernimmt einen Großauftrag für einen Bauträger. Der Auftrag ist fertig ausgeführt, da meldet der Auftraggeber Insolvenz an. Will nur einen Teil der Arbeit oder gar nicht zahlen. Das haut den kleinen Handwerker wirtschaftlich um. Obwohl er gute Arbeit geleistet hat!
Und die große Firma saniert sich gesund.
Da steckt tatsächlich bisweilen System dahinter. Deshalb wünschen wir uns, dass von politischer Seite härter gegen solchen Missbrauch vorgegangen wird. Vor allem aber wünschen wir uns, dass es mehr Unterstützung gibt für tatsächlich Betroffene. Mehr und vor allem hinsichtlich ihrer Qualität überprüfte Beratungsstellen. Es gibt gute, die Caritas-Schuldnerberatung im Berliner Raum beispielsweise. Aber die haben häufig sehr lange Wartezeiten. Wenn man dort einen Termin in zwei Jahren angeboten bekommt, zu Hause aber die Hütte brennt – das nützt einem gar nichts. Diese Notlage nutzen dann zweifelhafte Berater aus, die nichts wirklich regeln – die man aber womöglich per Vorkasse bezahlen muss.
In Deutschland dauert das Insolvenzverfahren sechs Jahre bis zur Schuldenfreiheit. In Großbritannien geht das schneller. Wäre eine Verkürzung wünschenswert?
Ja. Sechs Jahre sind zu lang. In Großbritannien ist man nach einem Jahr durch. Das Ziel muss sein, möglichst schnell wieder zurück in die Gesellschaft zu finden, beispielsweise seine Firma wieder aufzubauen anstatt langfristig zum Sozialfall zu werden und die drei Angestellten gleich mit. Während einer Privatinsolvenz wird so ziemlich alles, was gesellschaftlich normal ist, zum Problem. Auch darum geht es in den Gruppen: Tipps zu bekommen, was man tun kann, wenn man eben doch kein Bankkonto bekommt, wenn man keine Wohnung findet, wenn eine Räumungsklage droht und sämtliche Bewerbungen fehlschlagen. Zu den sechs Jahren Verfahren kommen ja noch weitere drei Jahre mit einem Schufa-Eintrag. Das stigmatisiert – und macht eine Rückkehr ins normale Erwerbsleben fast unmöglich. Deshalb brauchen wir Selbsthilfegruppen.
Für wen genau ist das Angebot gedacht?
Wir laden Menschen ein, die von Insolvenz betroffen oder bedroht sind. Erfahrungsgemäß suchen Frauen etwas eher Hilfe als Männer, die oft nach dem archaischen Muster leben und kämpfen: „Das schaff ich schon alleine.“ Nach dem ersten Treffen sagen sie dann oft: „Hätte ich mal früher davon gewusst.“
Aber es gibt nicht genügend Angebote, Beratung und Selbsthilfegruppen.
Das ist eine unserer Forderungen: Dass die Mittel für Beratungsstellen aufgestockt und Qualitätskriterien eingeführt werden. Das Thema muss von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Wir sind ja nicht eine kleine Gruppe, die einfach zu doof ist zum Umgang mit Geld. Zurzeit laufen in Deutschland etwa 900 000 Insolvenzen. Mehr als 6,5 Millionen Menschen sind überschuldet, haben also mehr Kosten als Einnahmen.
Wo findet man Rat und Hilfe, auch wenn man nicht in einer Großstadt wohnt?
Telefonische Beratung bieten wir auf der Seite unserer gemeinnützigen Stiftung Finanzverstand. Dort empfehlen wir auch qualifizierte lokale Beratungsstellen.
Das Gespräch führte Steffi Pyanoe
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