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Leben in zwei Welten. Tess Waldbach ist in Rio de Janeiro aufgewachsen und studiert derzeit Ernährungswissenschaften in Potsdam. Vor allem das Schloss Sanssouci hat es ihr angetan.

© Manfred Thomas

Eine Brasilianerin in Potsdam berichtet: Die Schattenseiten der Spiele

Tess Waldbach ist in Rio aufgewachsen. Jetzt lebt sie in Potsdam und sorgt sich um ihre Heimat.

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Es ist eines der Großereignisse des Jahres: Heute Abend um kurz nach Mitternacht (MEZ) beginnen in Rio de Janeiro offiziell die Olympischen Sommerspiele 2016 – und auch in Deutschland werden sich viele im Fernsehen mit den Sportwettkämpfen die Nacht um die Ohren schlagen. Die Spiele haben aber auch ihre Schattenseiten, wie die in Potsdam lebende Brasilianerin Tess Waldbach berichtet – vor allem für die brasilianische Gesellschaft. Die 26-Jährige studiert in Potsdam Ernährungswissenschaften und erzählt gerne von ihrer Heimat am Zuckerhut, dem Traumziel für viele Urlauber. Dennoch ist sie froh, gerade jetzt in Deutschland zu sein.

Die Kriminalität in ihrer Heimat mit Zehntausenden Toten in den vergangenen Jahren sei allgegenwärtig. So sei es als junge Frau unüblich, abends alleine nach Hause zu gehen. Überall sei Polizei und Militär präsent. Olympia habe noch mehr Korruption und Misswirtschaft mit sich gebracht, sagt sie. So sei für mehrere Millionen Euro ein Radweg entlang der Küste entstanden, aber drei Wochen später wieder gesperrt worden. Ein Sturm und hohe Wellen hätten das Bauwerk zerstört.

Immer wieder Unruhen und Ausschreitungen

Zudem sei der Staat wegen der hohen Verschuldung kaum noch in der Lage, die Daseinsvorsorge zu garantieren. Es gebe seit Jahren immer wieder Unruhen und Ausschreitungen, wie etwa vor rund drei Jahren kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Zwar sei für die Zeit der Olympischen Spiele die Armee in der Stadt, um in der Zwölf-Millionen-Metropole für Sicherheit zu sorgen. Dadurch würden Demos zumindest im reichen südlichen Teil von Rio unterbunden und seien für die internationale Öffentlichkeit nicht sichtbar. „Die Armee ist zurzeit da, wo die Menschen hinschauen. Deswegen sind keine Demonstrationen zu sehen.“

Ein Grund für die Unzufriedenheit der Brasilianer sei unter anderem die massive Inflation, sagt Waldbach. „Ein normaler Mensch kann sich ein Leben in Rio nicht mehr leisten.“ So sei das Studium ihrer Schwester in Rio etwa doppelt so teuer gewesen wie ihres in Potsdam. Auch hätten Lehrer, Professoren, Polizisten oder Feuerwehrleute in den vergangenen Monaten keinen Lohn bekommen. An der Uni in Rio häufe sich der Müll, weil er nicht mehr weggeräumt werde. Und dann sei da noch das gefährliche Zika-Virus, das für Schädelfehlbildungen bei Babys verantwortlich gemacht wird. Und natürlich das Impeachment-Verfahren gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff. Die Stimmung in der Stadt sei derzeit sehr schlecht, sagt die Studentin.

Auch sie selbst hat schon einmal eine Schießerei miterlebt. Während des Schulunterrichtes knallte es plötzlich draußen. „Das klingt ganz anders als im Fernsehen“, sagt sie und klatscht demonstrativ mehrfach kräftig in die Hände. Seltsam sei der Lehrer gewesen. Der sei auf den Balkon gerannt, um zu schauen, was da los sei. „Das macht man nicht bei einer Schießerei, da versteckt man sich.“ Erst am Mittwoch sei ein Bekannter von ihr erschossen worden. Im Norden der Stadt, in einem der Slums, den sogenannten Favelas. Traurig wirkt Tess Waldbach und doch ist es fast Gewohnheit.

Der Auslöser für die Proteste vor der WM 2014 sei relativ banal gewesen. Es ging um einen höheren Ticketpreis für die öffentlichen Busse. 20 Cent mehr sollten bezahlt werden. Das wollten oder konnten viele in Rio nicht mehr mitmachen.

Sie bereut es kein bisschen

Tess Waldbach kam 2013 nach Deutschland und bereut es kein bisschen, so weit von daheim zu leben. Ihre Mutter ist Lehrerin an einer deutschen Schule in Rio, die Großmutter sei Jüdin gewesen, habe in der Nähe von Bremen den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust mit viel Glück überlebt und sei nach Südamerika ausgewandert. Ihr Vater? „Der wollte mich nicht“, sagt Waldbach nur. Er habe wohl schottische und portugiesische Wurzeln. Sie habe einen Stiefvater, der auch Lehrer sei und jetzt in Süddeutschland lebe.

Was ist für sie so toll an Potsdam, der kleinen Landeshauptstadt? „Man kennt sich, trifft schnell jemanden und ist doch nah an Berlin“, sagt Waldbach. Sie sei sehr verbunden mit dem Meer, dort entstehe schnell „so ein pathetisches Gefühl“. Eigentlich habe sie in Karlsruhe studieren wollen. Als sie dann nach Potsdam gezogen sei und das erste Mal das Schloss Sanssouci gesehen habe, habe sie sich sofort verliebt. „Das ist so schön.“ Und auch hier im Park gebe es dieses Gefühl der Ruhe, fast wie am Meer. „Sanssouci – ohne Sorgen eben.“

Dennoch, wenn sie über Rio de Janeiro spricht, kommt ein Stück der Lebensfreude durch, für die die Stadt so berühmt ist und weshalb die Olympischen Spiele vielleicht doch ein Erfolg für die Stadt werden können. Sie freue sich, dass selbst aus dem kleinen Potsdam jetzt Sportler in Rio um die Medaillen kämpfen und dabei ihre Heimat kennenlernten. „Wir können viel ertragen und haben jede Menge Verständnis.“ Und wie geht es weiter nach den Spielen? „Wir hoffen, dass es besser wird. Wir sind alle Optimisten.“ So einfach ist das.

Stefan Engelbrecht

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