Landeshauptstadt: Die Traurigkeit kommt zum Schluss
In der Jugendhilfeeinrichtung „Eva Laube“ wohnen so genannte Sozialwaisen: Kinder, deren Eltern nicht gestorben, aber nicht in der Lage sind, sie zu versorgen. Weihnachten, das Fest der Familie, ist für diese Kinder die schwierigste Zeit i
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Das Herz ist groß und rot und mit riesigen Pinselstrichen in die Mitte der Botschaft gemalt. Darüber steht: Fröhliche Weihnachten. Es ist das Fest der Liebe, der Familie. Auch für jene Kinder, die nicht mit ihren Eltern feiern können.
„Ich wünsche mir, dass alle da sind“, sagt Melanie. Für die Neunjährige sind die Erzieher und ihre Mitbewohner zu ihrer Familie geworden. Das Mädchen bleibt über die Feiertage in der Jugendhilfeeinrichtung „Eva Laube“ – wie schon im vergangenen Jahr. Es weiß, dass ihr Wunsch vom Feiern im großen Ersatzfamilienkreis nicht in Erfüllung gehen kann. Sechs der insgesamt neun Kinder und Jugendlichen, die sich fast das ganze Jahr über eine Etage in der Babelsberger Villa teilen, sind zumindest am 24. Dezember zu Hause. Das Zuhause sind nicht immer die Eltern, es können auch die Großeltern, Tanten oder erwachsene Geschwister sein, erklärt Birgit Hacker, stellvertretende Leiterin des Hauses in Trägerschaft des Evangelische Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) Lazarus. Ein Besuch der Ursprungsfamilie sei an den Feiertagen dann nicht möglich, „wenn eine Gefährdung des Kindeswohls“ nicht auszuschließen ist, zum Beispiel, wenn die Eltern alkoholkrank sind oder sie ihre Kinder nicht vor sexuellem Missbrauch schützen können.
„Von meinen Eltern wünsche ich mir eine CD von der Band ,US 5“ und Leerkassetten, um was aus dem Radio aufzunehmen“, zählt das blonde Mädchen mit der Zahnspange auf. Die Geschenke wird es erst im Januar geben, wenn Melanie Mutter und Vater wieder trifft. „Die Wunschlisten der Kinder sind bescheiden“, sagt Erzieherin Cindy Herbert, die in diesem Jahr Feiertagsdienst hat. Melanie hat ihrer Zimmernachbarin beim Verfassen geholfen: Ein Plüschtier, eine Uhr mit Delphinen auf dem Ziffernblatt, ein Spiel. Die könne noch nicht so gut schreiben, sagt das Mädchen. Was die Kinder tatsächlich bekämen, sei die eigentliche Überraschung. Darum werden die Hälse auch immer besonders lang, wenn die Heimbewohner in der Vorweihnachtszeit ins Betreuerzimmer linsen, „wo die verpackten Geschenke aufbewahrt werden“, wie Erzieherin Juliane Flegel verrät. Aber auch die Kinder haben ihre Heimlichkeiten. Wenn sich Uneingeweihte den Zimmern im ersten Stock nähern, verstummen die Gesänge und es wird gezischt und getuschelt. Wenn der Weihnachtsmann zur Gruppenfeier kommt, werden die fünf Erzieher mit einer Gesangseinlage belohnt. Aber die sind natürlich völlig ahnungslos.
Melanie ist sich nicht sicher, ob es den Weihnachtsmann wirklich gibt, weil doch die älteren Mitbewohner sie immer vom Gegenteil überzeugen wollen. Vorsichtshalber hat sie ein Lied auswendig gelernt, dass sie vortragen möchte, wenn der Mann im roten Mantel mit weißem Bart kommt. Sonst, das weiß sie, gibt es ja keine Geschenke. „Das Lied find“ ich richtig cool“, sagt sie, zupft etwas verlegen an ihrem Jeansrock und singt einfach drauf los: „Ich wünsch mir zum Heiligen Christ einen Kopf, der keine Vokabeln vergisst“ Logisch, dass das Mädchen das Lied in seiner Grundschule in der Domstraße aufgeschnappt hat.
Das letzte Weihnachtsfest hat die Neunjährige noch gut in Erinnerung. Nach dem Schlittschuhlaufen am frühen Nachmittag hatte sie ganz nasse Hosen – riesig lecker waren die Bratäpfel. Die wünscht sie sich auch in diesem Jahr neben kleinen und „mittelmäßigen Batterien“ für Discman und Radiorekorder.
Im großen Gruppenraum steht ein langer Tisch, an dem alle im Haus auf einmal Platz finden: die neun Wohngruppenkindern mit ihren fünf Erziehern und die fünf fast Erwachsenen aus der Trainingswohnung im Dachgeschoss mit ihren zwei Betreuern. Auf einem Podest in der Ecke steht der mit roten und goldenen Kugeln geschmückte Tannenbaum. Zwei Lichterketten, die beim Auspacken total verheddert waren, stiften jetzt fünfzig Lichtpunkte. „Den haben wir alle zusammen geschmückt“, sagt Melanie stolz.
Am heutigen Heiligen Abend wird es still in der Villa am Griebnitzsee. Melanie und zwei 15-jährige Mädchen sind mit Erzieherin Cindy Herbert allein. Der Abend beginnt mit ein paar Gesellschaftsspielen. Kartoffelsalat und Würstchen sind schon gemeinsam vorbereitet. Vor dem Essen allerdings ist Bescherung. „Darauf warten die Kinder ja schon so lange“, sagt die Erzieherin. Die Gestaltung des Abends bestimmen die, die im Heim bleiben. „Wir richten uns nach den Wünschen der Kinder“, erklärt Juliane Flegel. Allerdings müsse man Vorschläge machen. Bevor sie in die Jugendhilfeeinrichtungen kamen, hätten die wenigsten ein richtiges Weihnachten erlebt. „Basteln, Kekse backen, Baumschmücken, Besinnlichkeit ist den meisten aus der Wohngruppe fremd“, erklärt Cindy Herbert. Und wenn es mal Geschenke gab, dann unverpackt oder einfach zwischendurch. Die Teenager genießen im Stillen, dass das jetzt anders ist. „Und manchmal kommt von dem, was wir vermitteln, auch etwas zurück“, sagt die Erzieherin. Dann gibt es auch eine Kleinigkeit für sie.
Das Schlittschuhlaufen am Nachmittag, Kartoffelsalat und süße Bratäpfel zum Nachtisch, erfüllte Geschenkwünsche und ein bisschen Geselligkeit macht alle herrlich müde. Cindy Herbert wird am heutigen Abend ihre Schützlinge ins Bett begleiten: nicht nur Melanie, sondern auch die beiden großen Mädchen. Bevor sie nämlich endlich schlafen, kommt das tagsüber erfolgreich Verdrängte dann doch hoch. All die Fragen, die Ungerechtigkeit, die Wut. Dann brauchen sie jemanden, der zuhört, der sie in den Arm nimmt. Am Schluss, sagt die Betreuerin, kommt die Traurigkeit.
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