Von Erhart Hohenstein: „Die Verfassung kann man ändern“
Die BNN war die erste DDR-Zeitung, die ein Interview mit einem Mitglied des Neuen Forums druckte. Die Vorgeschichte dazu mutet an wie aus einem Spionagefilm.
Stand:
Am 2. November 1989 erschien in den BNN (jetzt PNN) ein Interview „Mit Dr. Reinhard Meinel, Neues Forum, im Gespräch“. Zu diesem Zeitpunkt war die für Demokratie und freie Wahlen eintretende Bürgerbewegung noch verboten. Das Interview hatte der Astrophysiker Günther Rüdiger eingefädelt. Er schlug es mir in einem Privatanruf vor. Dazu wurde in der Rubrik „Am Telefonhörer mitgeschrieben“ am 30. Oktober 1989 seine Bemerkung veröffentlicht, die bisherige Berichterstattung der BNN über die Protestbewegung sei eine „Eierei“ und er empfehle ein Interview mit dem Neuen Forum.
Spontan kam dieser Anruf des jetzigen Professors am Astrophysikalischen Institut Potsdam nicht. Rüdiger war am 11. September 1989 beim Tischtennisspielen in der Mittagspause von seinem Kollegen Reinhard Meinel mit den Worten „Wir haben gestern eine neue Partei gegründet“ über die Bildung des Neuen Forums informiert worden. Dazu hatten sich bekanntlich führende Oppositionelle am 9. und 10. September in Grünheide im Haus von Katja Havemann getroffen. „Ich brauchte 14 Tage, um mich zu entscheiden“, erinnert sich Rüdiger.
Dann engagierte er sich, etwa für die Unterschriftensammlung zur Unterstützung des Neuen Forums, die in Potsdam etwas mehr als 2000 Stimmen brachte. Rüdiger wurde sich mit den in der Stadt führenden Köpfen des Neuen Forums, Rudolf Tschäpe und Reinhard Meinel, einig, dass die Bürgerbewegung mehr Öffentlichkeit brauche und dafür die Medien nutzen sollte. „Wir waren damals, wie andere Potsdamer Intellektuelle, Leser der BNN, die wir weniger als Blatt der NDPD, sondern eher als gewisse Alternative zur SED-Parteizeitung ,Märkische Volksstimme’ wahrgenommen haben“, erinnert sich Rüdiger. „Deshalb entschieden wir uns dafür, in Ihrer Person die BNN anzusprechen.“
Durchaus mit einigen Bauchschmerzen stimmte ich zu. Die Umstände des Interviews erinnerten an einen Spionagefilm. Minutengenau zum von Rüdiger angekündigten Zeitpunkt kam Meinel, der Potsdamer Sprecher des Neuen Forums, nicht etwa in die Redaktion, sondern klingelte zu abendlicher Stunde nach 20 Uhr an unserer Wohnung in einem Plattenbau in der Leninallee, der heutigen Zeppelinstraße. Von Sofa zu Sessel führten wir das Interview, das wir beide gründlich vorbereitetet hatten. Er habe geäußert, seine Gruppe stehe auf dem Boden der Verfassung der DDR, erinnerte ich Meinel. „Dies schließt jedoch nicht aus, über Verfassungsänderungen zu diskutieren“, erwiderte er. Die Behauptung der SED-Führung, das bestehende Parteiensystem genüge für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme, wies Meinel zurück. Garantie für ein Vertrauensverhältnis zwischen Staatsführung und Bevölkerung könnten nur demokratische Wahlen sein. Die DDR brauche neue Parteien, so auch die Grünen.
Meinel wies darauf hin, dass in Potsdam am 16. Oktober erstmals in der DDR ein politisches Rathausgespräch stattgefunden habe, zu dem auch Vertreter des Neuen Forums offiziell zugelassen wurden. Im damaligen Jugendzentrum „Drushba“ (heute Blauhaus) konnte er dann in einem „Potsdamer Gespräch“ erstmals die Forderungen des Neuen Forums darlegen. Der Sprecher nutzte das BNN-Interview, um auf die zum 4. November 1989 angekündigte Demonstration für Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit hinzuweisen. Er gehe davon aus, dass sie von den Behörden genehmigt werde. Die Kundgebung, für die die Staatssicherheit 20 000 Teilnehmer herunterrechnete, wurde zur größten in der Geschichte Potsdams.
Zugegeben nicht ohne Demagogie erklärte ich am Schluss des Interviews, dass in der DDR für die Presse keine Vorzensur bestand (was zutraf, den Ärger gab es immer erst hinterher). „Ihnen möchte ich jedoch angesichts der nicht unkomplizierten Materie anbieten, den Text vor Veröffentlichung miteinander abzustimmen.“ Mit dem Fahrrad brachte ich das Manuskript dann zur Wohnung Meinels in der Nähe des Klinikums und warf es in den Briefkasten. Noch am selben Tag kam die Endfassung auf ähnlichem Weg zurück.
Nun ging es darum, die Veröffentlichung des Interviews durchzusetzen. Der Chefredakteur, der für politisch unbotmäßige Redakteure schon -zigmal den Buckel hingehalten hatte, erklärte sich zögerlich bereit. Nur etwas weiter hinten im Blatt möge das Interview erscheinen, beginnend auf Seite zwei.
Dann klingelte das Telefon. Ein in der NDPD-Hierarchie in den „Apparat des Parteivorstands“ emporgestiegener Funktionär, der nach mehrjährigem gemeinsamem Journalistikstudium von mir wieder gesiezt werden wollte, warnte dringend vor dem Abdruck des Interviews. Es hörte sich fast flehend an. Noch vier Wochen zuvor hätte er in barschem Ton unter Androhung „disziplinarischer Maßnahmen“ die Veröffentlichung untersagt.
Offensichtlich hatte er die Information von einem internen Zuträger. Schließlich waren von unseren nur zwölf Redakteuren drei Spitzel der Staatssicherheit. Das Interview mit Reinhard Meinel erschien trotzdem. Damit waren die BNN die erste Regionalzeitung der DDR, die der Bürgerbewegung ihre Spalten öffnete.
Der Autor war langjähriger Redakteur bei den BNN und später den PNN.
Erhart Hohenstein
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