Von Pachacutec Chugchilán (Übersetzung: Rainer Simon): Die Verrückten am Heiligen See
Ein 16-Jähriger aus Ecuador hat für mehrere Monate in Potsdam gewohnt – ein Erfahrungsbericht
Stand:
Pachacutec Chugchilán ist ein Indígena aus den Anden Ecuadors, stammt also von den Ureinwohnern der Region ab. Sein indianischer Name bedeutet „Wiedergeburt einer neuen Ära“. Mehrere Monate hat der 16-Jährige bei dem Potsdamer Regisseur Rainer Simon gewohnt, dessen Patenkind er ist. Für potsdambinich hat er seine Reiseerfahrungen aufgeschrieben.
Deutschland ist ein herrliches Land. Aber für jemanden wie mich, der aus einer anderen Welt kommt, ist es schön und manchmal auch traurig, das Leben hier zu sehen. Denn ich bin arm, aber ich bin auch reich, weil ich Freunde um mich habe, mit denen ich mich gut fühle. Das ist nicht mit Geld bezahlbar.
Es gibt viele Sachen in Deutschland, die mir gefallen. Mich hat überrascht, dass die Leute hier immer freundlich und aufmerksam sind. In meiner Heimatstadt Quito ist es schwierig, solche Leute zu treffen, nur auf dem Land gibt es sie. Es gibt hier auch weniger Umweltverschmutzung, und von jung bis alt fährt man Fahrrad, ich sah sogar alte Frauen auf dem Fahrrad. Es gibt nicht viel Lärm, fast nie hupt ein Auto, was in Quito ständig geschieht. Die Straßen haben hier keine Schlaglöcher, und die meisten Leute respektieren die Verkehrszeichen. Fast nie sehe ich einen Polizisten, aber mir scheint, es gibt keine Kriminalität. In Quito gibt es viele Polizisten, aber trotzdem viel Kriminalität. Bis auf einen oder zwei sah ich hier keine Märkte, alle Leute kaufen in Supermärkten, und ich denke, alle Deutschen leben wie „verwöhnte Kinder“, wie man die reichen Leute in Quitos Norden nennt.
Klar, es gibt auch Armut, aber nicht eine solche Armut, dass die Leute kein zu Hause haben, nichts zu essen und vor Hunger sterben oder dass sich jemand an einer verkehrsreichen Straße hinknien und um Gaben betteln muss, und doch nicht mehr als ein paar Cents bekommt. Außerdem erhalten die Leute in Deutschland, wenn es nötig ist, eine Hilfe des Staates, zum Beispiel die Arbeitslosen, was eine sehr gute Sache ist. Aber ich frage mich, was ist mit denjenigen, die nicht arbeiten wollen, erhalten die auch Geld? Wie einfach so zu leben! In Ecuador gibt es Leute, die arbeiten wollen, aber nicht können, denn um eine Arbeit zu suchen, reichen nicht gute Ideen oder dass einer der Beste in seinen Studien gewesen ist. In Ecuador funktioniert nichts, wenn du nicht reiche Eltern oder Beziehungen hast. Niemand erhält eine Hilfe vom Staat.
Die meisten Leute hier haben ein Auto, es gibt nicht viele Busse, klar, es gibt Metros und Straßenbahnen, aber es fahren nicht so viele Leute damit. In Quito gibt es hunderte Busse, die jeden Tag die Stadt vergiften und nicht nur die Stadt, die ganze Welt. Und niemand versucht das zu verbessern. Es gibt jeden Tag einen solchen Verkehr, dass die Chauffeure hupen wie die Verrückten und jeden belästigen, der einen Weg auf diesen Straßen sucht, wo man eigentlich nur mit 50 Kilometer pro Stunde fahren darf.
In der Straße in Potsdam, wo ich wohne, gibt es ein Altersheim. Und ich frage mich jeden Tag hier in Europa, wie kann ein Kind seinen Eltern so etwas antun. Wovon ich spreche? Dass viele Leute ihre Eltern in einem solchen Altersheim lassen und jene vergessen, die sie einst behütet haben, als sie klein waren und abhängig von ihnen. Jetzt brauchen sie diese Hilfe, und man sollte nur einen Moment darüber nachdenken, dass die Jugend nicht ewig dauert. Ich möchte nicht wissen, wie du dich fühlst, wenn eines deiner Kinder dich verlässt. Dann wirst du fühlen, was deine Eltern gefühlt haben in einem solchen Altersheim. Dann wirst du einsehen, dass es falsch war, deine Eltern dort zu lassen, denn jetzt machen deine Kinder dasselbe. Es wird dir nichts anderes bleiben, als dass du die Zeit zurückdrehen möchtest, aber dann ist es zu spät. Besser vorher darüber nachdenken, dass du vielleicht der nächste sein könntest.
Nach zwei Wochen wollte Rainer mir zwei weitere Länder Europas zeigen, Österreich und Italien, klar, dass wir mit dem Auto fuhren. Das Kurioseste war, dass du auf der Autobahn so schnell fahren kannst, wie es der Motor hergibt. An einem Tag gingen wir durch die Stadt Salzburg, und vor einem Haus waren viele Leute. Rainer sagte mir, das ist das Haus des berühmten Komponisten Mozart – und ich wusste nicht wer das ist. Aber nun weiß ich es und höre jeden Tag seine Musik, denn seine Musik gefällt mir sehr gut. Deshalb sage ich, an jedem Ort, egal wo und wie, kannst du etwas Neues lernen. Deshalb, mache das Beste aus deinem Leben, und du wirst den Grund finden, warum du existierst.
In Österreich und Norditalien gibt es viele Berge, aber die in Ecuador sind ein wenig höher. Allein Quito liegt schon in einer Höhe von 2800 Metern mit noch höheren Bergen in der Umgebung, ich lebe am Fuße eines dieser Berge. Man kann sich also vorstellen, welche Höhe die Berge in Ecuador haben. Zum ersten Mal sah ich einen Tunnel in einem Berg, so lang, dass ich dachte, dass er nie enden werde.
Es ist wunderbar all diese Schlösser zu sehen, in Potsdam, Berlin, in Österreich und anderen Gegenden, so alt und so gewaltig, und die meisten haben einen wunderschönen Garten und eine Architektur, die jeden begeistert, egal woher er kommt, welcher Kultur er angehört, welche Bräuche oder Traditionen er hat. Sanssouci – was für ein herrliches Schloss! Noch nie habe ich so etwas gesehen, nur in Erzählungen davon gehört.
Ebenfalls überrascht hat mich, dass im Heiligen See die Leute ganz nackt baden, egal ob Mann oder Frau. Im ersten Momente dachte ich, ich bin in einer anderen Welt, und diese Leute sind verrückt geworden, aber wenn die es nicht sind, bin ich es vielleicht. Man muss immer die positive Seite des Lebens sehen.
Eine Sache will ich noch sagen. Ich glaube nicht, dass ich ein Mensch bin für eines dieser Länder in Europa. Ich möchte in meiner Welt leben, obwohl ich mich hier sehr gut fühle. Es ist so, wie das Leben eines dieser Reichen aus Quitos Norden zu führen, aber nur für drei Monate. Aber gut, etwas ist etwas und besser als nichts.
Pachacutec Chugchilán (Übersetzung: Rainer Simon)
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