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Prozess gegen Paar aus Fahrland: Die verschiedenen Wahrheiten zweier Geschwister
Vor dem Amtsgericht Potsdam hat der Prozess gegen ein Paar aus Fahrland begonnen, das seine Pflegekinder misshandelt haben soll. Doch die Aussagen von zwei der Opfer weichen voneinander ab.
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Die Vorwürfe klingen entsetzlich. Es geht laut Anklageschrift um drei Kinder, die von ihren beiden Pflegeeltern aus Neu Fahrland ab 1999 rund fünf Jahre lang misshandelt worden sein sollen - trotz Kontrollen durch das Jugendamt. Der erste Prozesstag zu diesem Fall, der seit Dienstag am Amtsgericht verhandelt wird, warf dabei mehr Fragen auf, als dass er Antworten brachte.
Das lag vor allem an den unterschiedlichen Aussagen von zwei der drei Pflegekinder, einem Geschwisterpaar. Denn während die heute 24-jährige Nora S. (*Namen alle geändert) ihre damaligen Pflegeeltern schwer belastete, widerrief ihre 27 Jahre alte Schwester Anne S. eine frühere Aussage bei der Polizei. Dabei hatte sie vor drei Jahren gesagt, ihre Pflegemutter hätte die Kinder unter anderem mehrfach mit Essen so lang gefüttert, bis sie sich übergeben mussten - und auch das Erbrochene hätten die Kinder dann essen müssen.
Durch diese Aussage kamen die Ermittlungen erst ins Rollen. Auch die damals in einem Brief geschilderten regelmäßigen Schläge durch die Mutter bestritt Anne S. vor Gericht: Sie habe sich diese Geschichte auf der Grundlage von Fernsehkrimis ausgedacht und sich bei ihren Eltern, bei denen sie jetzt wieder wohnt, inzwischen entschuldigt. „Ich wollte ihnen damit wehtun“, sagte Anne S. zur Erklärung. Sie leidet laut einem aktuellen Gutachten am Borderline-Syndrom: also einer Persönlichkeitsstörung, die durch Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet ist - und durch die Angst vor dem Alleinsein. Wie es im Gericht hieß, wurden die Schwestern in einer Trinkerfamilie groß, die Mutter starb früh, sie kamen ins Heim und später zu ihren Pflegeeltern.
Inzwischen ist Anne S. selbst vierfache Mutter, mit den Kindern lebte sie zeitweise im Frauenhaus, in einem Mutter-Kind-Heim und immer wieder auch bei ihren Pflegeeltern. Der Pflegemutter wird auch vorgeworfen, den Kopf des ältesten Kindes von Anne, damals war es drei Jahre alt, während eines Urlaubs gegen ein Waschbecken geschlagen zu haben. Ein Camping-Nachbar habe das angezeigt, hieß es vor Gericht. Doch Anne S. sagte, die Vorwürfe stimmten nicht, ihr Sohn sei zwar hyperaktiv gewesen und habe oft geschrieen, sei aber immer zufrieden gewesen. In der Anklage gegen die Pflegeeltern heißt es, Anne S. habe ihnen die Erziehung ihrer Kinder überlassen. Inzwischen sind sie in einem Heim untergebracht. „Meine Kinder tun mir leid“, so Anne S.
Dagegen blieb Annes Schwester Nora vor Gericht bei ihrer Version, die sie im Zuge der Ermittlungen geschildert hatte: Demnach seien die Kinder auf perfide Weise unterdrückt worden. Zwar sei es im Haus der Pflegeeltern, die nebenbei Hunde züchten, anfangs kinderfreundlich gewesen. Doch später seien die Kinder etwa mit Gewalt gefüttert worden, bis zum Erbrechen. Nach Streitigkeiten seien als Strafe versalzene Haferflocken serviert worden - und auch hier hätten die Kinder Erbrochenes essen müssen. Als man einmal in Zahnputzbecher der Eltern uriniert habe, habe man Urin trinken müssen. Auch von Schlägen berichtete die junge Frau. Gegenüber Mitarbeitern des Jugendamts, die zu angekündigten Kontrollen kamen, habe sie sich nicht getraut, etwas zu sagen. Auch nachdem sie mit 15, 16 Jahren flüchtete, schwieg sie über Jahre bis zum Beginn der Ermittlungen. Im Gericht schilderte Nora S. nun, wie ihr Pflegebruder Markus P. einmal in seinem Zimmer gezündelt hatte: Zur Strafe sei ihm von der Mutter ein brennendes Feuerzeug an die Genitalien gehalten worden, während der Vater ihn festhielt. Der Bruder war trotz Ladung des Gerichts nicht erschienen.
Zu der Kokelei hakte Bernd Dietze, der Anwalt des heute 52 Jahre alten Pflegevaters, ein - bei der Polizei hätte Nora S. noch gesagt, dieser habe das Feuerzeug gehalten. Der Widerspruch blieb am Dienstag ungeklärt. Der Verteidiger der 65-jährigen Mutter, Thomas Bosdorf, erklärte, noch 2007 habe Nora S. an ihre Pflegeeltern einen Brief geschrieben, dass sie zurück zu der Familie wolle. Ohnehin schüttelten die beiden Eltern bei den Anschuldigungen mehrfach die Köpfe, die Mutter lächelte häufig. Anwalt Bosdorf sagte, er werde noch Entlastungszeugen präsentieren und auch die Glaubwürdigkeit der Zeugin Nora S. hinterfragen. Der Pflegevater sagte, er würde nie an Kinder Hand anlegen. Allerdings erklärte er auch, dass die Kinder nach „intensivem Blödsinn“ - Vorhänge seien zerschnitten worden, Spülmittel im Essen gelandet und mehr - sie zum Stehen in einer Ecke oder mit Kniebeugen bestraft habe. Hätte sich ein gravierender Vorfall wiederholt wie bei der Kokelei, nach der er mit seinem Pflegesohn lange gesprochen habe, dann hätte er auch das Jugendamt eingeschaltet, so der Mann.
Als weitere Zeugin wurde eine Kundin der Firma der Familie gehört, der sich Anne S. vor ihrer Aussage bei der Polizei - die Eltern waren gerade im Urlaub - anvertraute. Die Unternehmerin sagte, ihr seien die Aussagen des offenbar eingeschüchterten Mädchens damals echt vorgekommen: „Ich war schockiert." Anne S. habe geschildert, dass sie sich ängstige, die Mutter Sex zwischen der jungen Frau und einem „aufdringlichen Onkel“ dulde und sie dem Mädchen gedroht habe, sie müsse ins Kloster. Auch eine Polizistin konnte sich an keine Anzeichen erinnern, dass die Behauptungen von Anne S. ausgedacht sein könnten.
Indes fand Anne S. eine Erklärung, warum sich ihre frühere Aussage und die ihrer Schwester Nora so sehr ähneln könnten: Nachdem sie erstmals von den Pflegeeltern abgehauen sei, habe sie später den anderen beiden anderen Kindern erklärt, was sie sagen sollten, „um auch herauszukommen“ - allerdings blieb Anne S. die Erklärung schuldig, warum die Vorwürfe dann erst Jahre später aktenkundig wurden. So sind noch viele Fragen offen, eines allerdings ist klar: Anne S. kam wieder nach Neu Fahrland zurück, die anderen beiden nicht. Im Gericht sahen sich die Schwestern kaum an, der letzte Kontakt ist Jahre her - und auch zu ihrem Stiefbruder Markus besteht keine Verbindung mehr. Er soll nächsten Dienstag gehört werden, ebenso eine Mitarbeiterin des damals zuständigen Jugendamts aus dem Landkreis Potsdam-Mittelmark.
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