
© Henri Kramer
Landeshauptstadt: Die verschiedenen Wahrheiten zweier Geschwister Am Amtsgericht hat der Prozess gegen ein Paar begonnen, das Pflegekinder misshandelt haben soll
Neu Fahrland - Die Vorwürfe klingen entsetzlich. Es geht laut der Anklageschrift um drei Kinder, die von ihren beiden Pflegeeltern aus Neu Fahrland ab 1999 fünf Jahre lang misshandelt worden sein sollen – trotz Kontrollen durch das Jugendamt.
Stand:
Neu Fahrland - Die Vorwürfe klingen entsetzlich. Es geht laut der Anklageschrift um drei Kinder, die von ihren beiden Pflegeeltern aus Neu Fahrland ab 1999 fünf Jahre lang misshandelt worden sein sollen – trotz Kontrollen durch das Jugendamt. Der erste Prozesstag zu dem Fall, der seit Dienstag am Amtsgericht verhandelt wird, warf dabei mehr Fragen auf, als dass er Antworten brachte.
Das lag vor allem an den unterschiedlichen Aussagen von zwei der drei Pflegekinder, einem Geschwisterpaar. Denn während die heute 24-jährige Nora S. (*Namen geändert) ihre damaligen Pflegeeltern schwer belastete, widerrief ihre 27 Jahre alte Schwester Anne S. eine frühere Aussage bei der Polizei.
Durch diese Aussage kamen die Ermittlungen erst ins Rollen. Die damals in einem Brief zum Beispiel geschilderten regelmäßigen Schläge durch die Mutter bestritt Anne S. vor Gericht: Sie habe sich diese Geschichte auf der Grundlage von Fernsehkrimis ausgedacht und sich bei ihren Eltern, bei denen sie jetzt wieder wohnt, inzwischen entschuldigt. „Ich wollte ihnen damit wehtun“, erklärte Anne S. Sie leidet laut einem aktuellen Gutachten am Borderline-Syndrom: also einer Persönlichkeitsstörung, die durch Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet ist – und durch die Angst vor dem Alleinsein. Wie es im Gericht hieß, wurden die Schwestern in einer Trinkerfamilie groß, die Mutter starb früh, sie kamen ins Heim und später zu ihren Pflegeeltern.
Inzwischen ist Anne S. selbst vierfache Mutter, mit den Kindern lebte sie zeitweise im Frauenhaus, in einem Mutter-Kind-Heim und immer wieder auch bei ihren Pflegeeltern. Der Pflegemutter wird vorgeworfen, den Kopf des ältesten Kindes von Anne, damals war es drei Jahre alt, während eines Urlaubs gegen ein Waschbecken geschlagen zu haben. Ein Camping-Nachbar habe das angezeigt, hieß es vor Gericht. Doch Anne S. sagte, die Vorwürfe stimmten nicht, ihr Sohn sei zwar hyperaktiv gewesen und habe oft geschrien, sei aber stets zufrieden gewesen. In der Anklage gegen die Pflegeeltern heißt es, Anne S. habe ihnen die Erziehung ihrer Kinder überlassen. Inzwischen sind sie in einem Heim untergebracht.
Dagegen blieb Annes Schwester Nora vor Gericht bei ihrer Version, die sie im Zuge der Ermittlungen geschildert hatte: Demnach seien die Kinder auf perfide Weise unterdrückt worden. Zwar sei es im Haus der Pflegeeltern, die nebenbei Hunde züchten, anfangs kinderfreundlich gewesen. Doch später seien die Kinder mit Gewalt gefüttert worden, bis zum Erbrechen – und auch dann hätten die Kinder weiteressen müssen. Als man einmal in Zahnputzbecher der Eltern uriniert habe, habe man einen austrinken müssen. Gegenüber Mitarbeitern des Jugendamts, die zu angekündigten Kontrollen kamen, habe sie sich nicht getraut, etwas zu sagen. Auch nachdem sie mit 15, 16 Jahren flüchtete, schwieg sie – bis die Ermittlungen liefen. Im Gericht schilderte Nora S. nun, wie ihr Pflegebruder Markus P. einmal in seinem Zimmer gezündelt habe: Zur Strafe sei ihm von der Mutter ein brennendes Feuerzeug an die Genitalien gehalten worden, der Vater habe ihn festgehalten. Der Bruder war trotz Ladung des Gerichts nicht erschienen.
Zu der Kokelei hakte Bernd Dietze, der Anwalt des heute 52 Jahre alten Pflegevaters, ein – bei der Polizei hätte Nora S. noch gesagt, der Mann habe das Feuerzeug gehalten. Dieser Widerspruch blieb am Dienstag ungeklärt. Der Verteidiger der 65-jährigen Mutter, Thomas Bosdorf, erklärte, noch 2007 habe Nora S. an ihre Pflegeeltern einen Brief geschrieben, dass sie zurück zu der Familie wolle. Der Anwalt sagte auch, er werde Entlastungszeugen präsentieren und die Glaubwürdigkeit von Nora S. hinterfragen. Der Pflegevater sagte, er würde nie an Kindern Hand anlegen. Allerdings erklärte er auch, dass er die Kinder nach „intensivem Blödsinn“ – Vorhänge seien zerschnitten worden, Spülmittel im Essen gelandet und mehr – zum Stehen in einer Ecke oder mit Kniebeugen bestraft habe.
Als weitere Zeugin wurde eine Kundin der Firma der Familie gehört, der sich Anne S. vor ihrer Aussage bei der Polizei anvertraute. Die Unternehmerin sagte, ihr seien die Aussagen des offenbar eingeschüchterten Mädchens damals echt vorgekommen: „Ich war schockiert.“ Anne S. habe etwa geschildert, dass sie sich ängstige, ihr gedroht werde und die Mutter Sex zwischen der jungen Frau und einem „aufdringlichen Onkel“ dulde. Auch eine Polizistin konnte sich an keine Anzeichen erinnern, dass die Behauptungen der heute 27-Jährigen ausgedacht sein könnten.
Doch Anne S. kam wieder nach Neu Fahrland zurück, Nora S. und Markus P. nicht. Im Gericht sahen sich die Schwestern kaum an, der letzte Kontakt liegt Jahre zurück – und auch zu ihrem Stiefbruder besteht keine Verbindung mehr. Er soll nächsten Dienstag gehört werden, ebenso eine Mitarbeiterin des bis 2003 zuständigen Jugendamts aus dem Landkreis Potsdam-Mittelmark.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: