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Von Kay Grimmer: „Die Wahl zwischen Pest und Cholera“

Die Herbstsonne lockte die Potsdamer am Tag der Deutschen Einheit eher auf die Straße als der Potsdamer Tag der Entscheidung – doch das Ergebnis spiegelte sich bereits vor den Wahllokalen wider: Wer wählen ging, wollte oftmals Scharfenberg verhindern

Stand:

Die blonde Frau ist noch unschlüssig. „Ich entscheide mich kurzfristig“, sagt sie und bleibt wartend in der Schlange stehen. Zur Stichwahl des Oberbürgermeisters herrscht großer Andrang – beim Eisverkäufer. Schoko oder Vanille statt Jakobs oder Scharfenberg: Ob SPD-Amtsinhaber Jann Jakobs weitere acht Jahre regieren darf oder Linke-Herausforderer Hans-Jürgen Scharfenberg erstmals den Posten des Stadtoberhaupts einnehmen kann, scheint für viele der rund 127 700 wahlberechtigten Potsdamer weit weniger wichtig als die Lust auf Sonnenstrahlen, Eis und Kaffee in der Innenstadt oder in Babelsberg. Erschreckend niedrig ist die Wahlbeteiligung um 16 Uhr: Nur etwas über 27 Prozent, die schlechte Bilanz des ersten Wahlgangs vor zwei Wochen ist noch einmal unterboten. Nur bei Europawahlen gingen noch weniger Potsdamer zur Wahl. Zum Schluss gingen 42,1 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne.

Dabei besitzt diese Stichwahl viel Symbolkraft. Erstmals hätte mit Scharfenberg ein ehemaliger Informeller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit die Geschicke einer deutschen Landeshauptstadt lenken können – gewählt am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit. Wie in einem Brennglas bündelt sich jüngere deutsche Geschichte und die noch immer währende Auseinandersetzung damit in der Potsdamer Entscheidung zum künftigen Stadtoberhaupt.

Die wenigen, die es bis zum frühen Sonntagnachmittag an die Wahlurnen treibt, haben offenbar ähnliche Gedanken – entgegen der zuvor öfter kolportierten Ansicht, die IM-Vergangenheit des Linken spiele kaum eine Rolle bei den Wählern. „Ich will keinen Stasi-OB, wir haben auf zu viel verzichten müssen vor der Wende“, sagt eine Babelsbergerin, die sich als einstige Regimekritikerin bezeichnet. „Scharfenberg kommt für mich wegen seiner Vergangenheit nicht in Frage“, meint auch Ulrike Jung in der Innenstadt.

Trotz des Gegenwinds: Hans-Jürgen Scharfenberg zeigt sich optimistisch zur Stichwahl: „Ich denke, der Wahlkampf hat gezeigt, dass es Alternativen für Potsdam gibt“, sagt er in dem erzgebirgischen Singsang, den der gebürtige Annaberger auch nach Jahrzehnten in Potsdam beibehalten hat. Indes, sein Lächeln nach dem Urnengang am Sonntagmorgen wirkt angestrengter als beim ersten Wahlgang. Entspannung zeigt sich erst, als ein Wähler ihm zuruft: „Meine Stimme haste “. Die südlichen Plattenbaubezirke sind Scharfenbergs Revier – hier fuhr er schon bei der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen Ergebnisse von bis zu 60 Prozent ein, bei sechs Gegenkandidaten. Für den Sieg gereicht hat es nicht. Acht Prozent lag er hinter Amtsinhaber Jakobs – die absolute Mehrheit verfehlte aber auch der SPD-Mann.

Trotz dieses Vorsprungs von Jakobs, trotz der zwischenzeitlichen Wahlempfehlung aller bürgerlichen Parteien der Rathauskooperation, sich für Jakobs einzusetzen – eine Unsicherheit blieb für den Sozialdemokraten aus Ostfriesland. Noch immer wirkte der Schock von 2002 nach, als Scharfenberg im ersten Wahlgang ebenfalls deutlich hinter Jakobs rangierte, bei der Stichwahl bis zur Auszählung des letzten Briefwahllokals aber plötzlich vorne lag. Mit nur 122 Stimmen mehr wurde Jakobs schließlich auf den Stuhl des Stadtoberhaupts gehievt. Eigene Zweifel lässt der Amtsinhaber aber nach außen nicht aufkommen: „Keine Frage, ich hoffe, dass ich gewinne“, tönt Jakobs nach seiner Stimmabgabe am späten Sonntagvormittag. Seine Frau Christine Albrecht-Jakobs meint: „Wenn er sagen würde, er sei gelassen, wäre das gelogen.“ Jakobs’ Amtszeit ist sicherlich keine mit ausschließlichen Höhen. Natürlich gibt es Stimmen wie die von Doris Meindl. Die Babelsbergerin sagt, dass „Potsdam sich sehr zum Positiven verändert hat, die Stadt durch die vielen jungen Familien und die Infrastruktur attraktiv ist“. Auch Birgit und Ralf Kunkel in der Jägervorstadt wollen, „dass der alte auch der neue Oberbürgermeister ist, weil Potsdam auf einem sehr gutem Weg ist und Jakobs daran seinen Anteil hat“. Doch Fehler und umstrittene Entscheidungen gibt es einige. Die Versäumnisse und Ungeschicklichkeiten bei den Uferwegen werden Jakobs angelastet. Nicht zuletzt ist die Umgestaltung der Potsdamer Mitte ein entscheidender Punkt für oder gegen den Amtsinhaber. Vor allem die Potsdamer südlich der Havel, in den Plattenbaugebieten mäkeln, dass sich Jakobs mehr für die Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses mit Landtags-Stadtschloss und Garnisonkirche einsetze, als auf die Bedürfnisse der Einwohner einzugehen.

Die allerdings liegen an diesem Sonntag oft nicht darin, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Nur wenige halten es wie Frank Rutkowski, der die niedrige Wahlbeteiligung „für ein schlechtes Zeichen für die Politik und für Potsdam“ hält. Der Stern-Anwohner will sein Kreuz setzen, auch wenn seine Favoritin nicht mehr auf dem Stimmzettel steht: „Eigentlich hatte ich mir von der CDU-Frau Barbara Richstein mehr versprochen.“ Nun müsse er eben einen der beiden Herren wählen. Andere Potsdamer stellen sich dieser Entscheidung nicht. Egal, in welche Wahllokale man guckt, es herrscht Leere und es gibt stets die gleiche Antwort: „Noch weniger Zuspruch als vor zwei Wochen.“

Die blonde Mittvierzigerin am Eisstand in der Brandenburger Straße begründet es mit den Worten: „Wofür, es ist ja doch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.“ Beim Eis ist eine Entscheidung einfacher: „Ich nehme Schoko und Vanille.“

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