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DICHTER Dran: Die Welt von oben

Vor kurzem flog ich nach Sydney. Auf dem Formular, mit dem ich eine SIM-Karte für mein australisches Handy bestellte, wurde ich nach dem Bundesstaat gefragt, aus dem ich komme.

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Vor kurzem flog ich nach Sydney. Auf dem Formular, mit dem ich eine SIM-Karte für mein australisches Handy bestellte, wurde ich nach dem Bundesstaat gefragt, aus dem ich komme. Ich wollte schon weiterklicken, als ich merkte, wie mich diese Frage beflügelt. Von New South Wales aus gesehen ist Brandenburg ein Schatten, den Bücher wie „Stasiland“ und Filme wie „Das Leben der Anderen“ sehr sehr kurz vor die australische Sonne werfen.

Auch die Sachbearbeiterinnen, die sich in Singapore oder Indien meiner Bestellung annehmen, werden sich kaum die Mühe machen, auf einer Weltkarte nachzusehen, trotzdem gab ich BRANDENBURG in Großbuchstaben ein. Sie sollten es auf jeden Fall schon mal gehört haben. Ich gebe zu: ich war stolz. Ich bin stolz auf mein Land, auch wenn die Wortwahl ein wenig nach Pionierorganisation klingt. Aber auf der Südhalbkugel, wo der Mond verkehrt herum hängt, fällt auch von solchen Formulierungen der Ballast ab.

Brandenburgs Landeshauptstadt hat in diesem Wahljahr mit Frauen plakatiert. Sie lächeln von allen Laternen, Bäumen und Litfaßsäulen. Vor meinem Haus hängen vier Politikerinnen übereinander, die von vier verschiedenen Parteien ins Rennen der Landtagswahl geschickt werden; und keiner, der davorsteht und sagt: ist das hier ’n Mädchentreff?

Nein, liebe Freunde, zum Glück ändern sich manchmal die Zeiten!

Im Flugzeug las ich in der New York Times, dass heute mehr Frauen tot oder verschwunden sind, einfach, weil sie Frauen sind, als Männer in den Kriegen des 20. Jahrhunderts umkamen. Durch Frauenhandel. Massenvergewaltigung. Steinigung. Beschneidung. Ermordung weiblicher Babies. „Ehrenmord“. Die Zahl der Opfer dieses routinierten „Gendercide“ ist sogar höher als die Zahl derer, die in den Genoziden des letzten Jahrhunderts umgebracht wurden. Im 21. Jahrhundert ist Gewalt an Frauen und Mädchen die moralische Herausforderung.

Die Plakatierung in Potsdam ist nicht einfach Zufall oder ein Resultat der Finanzkrise. Sie ist, wenn man die Welt einundzwanzig Stunden lang von oben sieht, ein echtes Statement.

Unsere Autorin lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienenen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Antje Rávic Strubel

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