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Homepage: Drücken und Schubsen Morgens im Studentenexpress

Von Marcel Kirf „Aufhören zu schieben dahinten!“ „Was soll denn das?

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Von Marcel Kirf „Aufhören zu schieben dahinten!“ „Was soll denn das? Nicht schubsen!“ „Es ist eng. Ich komm hier auch nicht weiter.“ Eine Hand greift scheinbar von hinten in die Gesäßtasche. Jetzt nicht auch noch pickpockets! Taschendiebe wären jetzt das letzte. Es ist zehn vor neun an einem normalen Werktagsmorgen, und am Potsdamer Hauptbahnhof fährt gleich RB 39008, der so genannte Studentenexpress, ab. Um neun Uhr beginnen die Seminare, das akademische Viertel mitgerechnet um 9.15 Uhr. Der Zug – das wissen alle – ist siebzehn Minuten vorher am Bahnhof Park Sanssouci, vier Minuten später in Golm, also jeweils gerade noch rechtzeitig, um nicht zu spät zu kommen. Deswegen drücken sich hunderte von Jungakademikern in die zweistöckigen Bahnabteile. Die, die seit dem frühen Morgen aus Berlin ausgereist sind, mit ein bis drei S-Bahnen und Umsteigebahnhöfen. Die, die einen anderen Regionalexpress vom Bahnhof Zoo, vom Alex oder der Friedrichstraße erwischt haben. Und die, die in Potsdam oder Babelsberg wohnen, und am Anfang des Semesters das größtmögliche Schlafkontingent durch spätmöglichstes Zugbesteigen errechnet haben. Es sind mehr geworden in diesem Semester, die die Züge füllen. Insbesondere mehr Berliner, seit TU, HU und FU für die meisten Immatrikulationsantragssteller zu gemacht haben. Die studentischen Sardinen im Nahverkehrszug scheint das weder zu beschäftigen, noch ficht es sie an. „Sagen Sie der Sekretärin, Sie soll die Unterlagen rauslegen“, bellt ein kleines Persönchen im Ringelpullover in ihr Handy. „Nach der Vorlesung kümmere ich mich drum!“ Respekt. Das ist Metropolentext. „Der nächste ist Charlottenhof“, raunzt eine ältere Dame ihrem Mann zu. „Hilft ja nüscht“, seufzt der und guckt traurig auf die engstehenden Studentenrücken. „Den Koeffizienten für die Wärmekoppelung haben die alle Caipis geschüttet iiih und morgen im Hauptseminar“, surren die Gesprächsfetzen wie Projektile durch die milchige Stickigkeit, verdichten zu waberndem Informationsschlick, der Kopfschmerzen bereitet. „Park Sanssouci – Übergang zum Bus“, schallt es vom DB-Ansageband, und an den Automatiktüren bilden sich Studentenklumpen, die in Zeitlupe ins Freie bröckeln, unter neuerlicher Ausnutzung der Artikulationsbandbreite. Wer auf einen Anschlussbus vom Bahnhofsvorplatz spekuliert hat, stellt unter mitleidigen Blicken der Erfahreneren fest, dass auf den zu warten zu spät kommen bedeuten würde. Also eingereiht in die seltsame Karawane aus Rucksackträgern, die sich bereits wie eine Ameisenstraße am westlichen Ende des Schlossparks vorwärtsschiebt. Niemand blickt von der herbstlaubbedeckten Wegepflasterung auf, bis sich der Campus am Neuen Palais erhebt. Und was in engen zehn Minuten Schicksalsgemeinschaft akademischer Rush-Hour-Zustände gewesen ist, zersteubt wie von Geisterhand in die Institutsgebäude, während am Campus Golm gerade der Letzte die Tür zum Hörsaal schließt.

Marcel Kirf

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