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Landeshauptstadt: Durch die Raster der Jugendämter gefallen? Behörden hatten Hinweise auf angeklagte Pflegeeltern, griffen aber nicht entscheidend durch

Potsdam/ Bad Belzig - Im Misshandlungsprozess am Potsdamer Amtsgericht gegen Pflegeeltern aus Neu Fahrland geht es auch um mutmaßliches Behördenversagen. So haben die Mitarbeiter der verantwortlichen Jugendämter trotz Hinweisen auf eine mögliche Gefährdung von Kindern bei dem Paar zu wenig unternommen, keine Auffälligkeiten entdeckt oder keine Möglichkeit gehabt einzugreifen.

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Potsdam/ Bad Belzig - Im Misshandlungsprozess am Potsdamer Amtsgericht gegen Pflegeeltern aus Neu Fahrland geht es auch um mutmaßliches Behördenversagen. So haben die Mitarbeiter der verantwortlichen Jugendämter trotz Hinweisen auf eine mögliche Gefährdung von Kindern bei dem Paar zu wenig unternommen, keine Auffälligkeiten entdeckt oder keine Möglichkeit gehabt einzugreifen. Das ergeben Erklärungen der Jugendämter des Landkreises Potsdam-Mittelmark und der Landeshauptstadt, die den PNN auf Anfrage vorliegen. Für die Familie war bis 2003 der Landkreis Potsdam-Mittelmark zuständig, nach der Eingemeindung Neu Fahrlands dann die Stadt Potsdam.

Wie berichtet geht es laut Anklage um Vorwürfe gegen ein Ehepaar, das ab 1999 rund fünf Jahre lang drei anvertraute Pflegekinder misshandelt haben soll. Im Landratsamt in Bad Belzig werden zur Aufarbeitung des Falls derzeit alte Akten gesichtet, erklärte der Chef des Jugendamts, Bodo Rudolph: Ohne dem Urteil vorgreifen zu wollen sei es bedrückend, „dass wir damals trotz unserer Sorgen keinen Weg fanden, dem Wohl der Kinder zu entsprechen“. Inzwischen gebe es aber neue Gesetzeslagen, eine allgemein größere Sensibilität zum Kinderschutz sowie einen neuen Kinderpflegedienst für die Region (siehe Kasten).

Von den zuständigen Amtspersonen hatte vor Gericht zuerst die frühere Sozialarbeiterin Heidemarie S. ausgesagt, die für das Jugendamt seit 1995 für den Jungen in der Pflegefamilie zuständig war. Schnell seien Bedenken gegen das Ehepaar aufgekommen, ohne dass sich etwas beweisen ließ. Bei ihrem einzigen Hausbesuch hätten die Kinder wie „Marionetten“ gewirkt und schon zur Begrüßung betont, dass sie ihre Pflegeeltern nicht verlassen wollen. Von einem „schlechten Gefühl“ in Bezug auf das Paar berichtete auch Bettina K., die von 1998 bis 2001 die Amtsvormündin für die Kinder war – was sie nach ihren Worten gesetzlich verpflichtet hätte, diese alle halbe Jahre zu sehen. Doch konnte sich die Beamtin im Zeugenstand nur an einen angemeldeten Besuch erinnern – die Familie habe Termine vor Ort oft abgesagt und sei in der Behörde ohne die Kinder erschienen. Die Pflegemutter habe am Telefon betont, die Kinder hätten Angst vor dem Jugendamt. So sei entschieden worden, den Druck auf die Kinder nicht weiter zu erhöhen. Sie vermute finanzielle Gründe, dass das Ehepaar drei Pflegekinder aufgenommen habe, so K. vor Gericht – Pflegeeltern erhalten je nach Alter des Kindes eine Pauschale und eine Aufwandsentschädigung, es geht pro Kind und Monat um dreistellige Summen. 2001 war K. nach einer Verhandlung am Potsdamer Familiengericht nicht mehr für den Jungen zuständig.

Von einem Machtkampf mit dem angeklagten Paar sprach Sozialarbeiterin S. – Hilfe von außen sei abgeblockt, die Kinder isoliert worden. Doch unangemeldete Besuche habe es nie gegeben. Amtsleiter Rudolph erklärte dazu, auch heute seien Spontankontrollen keine Praxis. So dürfte eine Wohnung nicht gegen den Willen der Eltern betreten werden – erst müsse ein begründeter Verdacht bestehen.

2001 wurde schließlich eine Helferkonferenz mit Behörden und Lehrern einberufen, weil laut S. die Kinder in der Schule Probleme und keine sozialen Kontakten hatten, häufig krank fehlten. Danach wurde für drei Stunden pro Woche eine Familienhelferin eingesetzt: Edith Sch. bemerkte bei ihren angekündigten Besuchen eine herzliche, aber auch strenge Erziehung der verschlossen wirkenden Kinder, wie sie vor Gericht sagte. Zugleich sagte Sch., die Erziehung von drei bereits aus Problemfamilien stammenden Pflegekindern hätte auch sie wohl überfordert. Allerdings sei das Ehepaar gegenüber Behörden skeptisch gewesen. Erstaunt sei sie gewesen, als der Pflegesohn ihr 2005 – ein Jahr nach seiner Flucht aus der Familie – telefonisch geschildert habe, ihm sei es bei der Familie jahrelang nicht gut gegangen. Dieser Aussage verfolgte die Therapeutin nicht weiter. Im Nachhinein frage sie sich, ob sie während ihrer Zeit in der Familie mehr hätte machen müssen, so Sch. Der Pflegesohn sagte vor Gericht, die Kinder seien unter Druck gesetzt worden, „auf heile Welt zu machen“. Auch eine 1999 vom Landkreis beauftragte Gutachterin stellte keine größeren Unregelmäßigkeiten fest.

Die 2004 für den Sohn eingesetzte Vormündin aus Potsdam, Christiane R., erinnerte sich im Gericht, dieser habe nach seiner Flucht gesagt, er sei in Neu Fahrland wie in einem Gefängnis gehalten und geschlagen worden. Stadtsprecher Jan Brunzlow sagte, der Sohn und die mit ihm geflohene Schwester seien dann in anderen Einrichtungen untergebracht worden – und nicht zurück in die Familie, was möglich gewesen wäre. Die Polizei wurde nicht eingeschaltet.

Ebenso hatte vor Gericht eine Campingnachbarin der Familie ausgesagt, bei einem Sommerurlaub 2008 sei ein damals drei Jahre altes Kind täglich von ihrer einstigen Pflegemutter misshandelt worden – eines der Kinder der ehemaligen Pflegetochter Anne S., die nun wieder bei dem Ehepaar wohnt. Die Zeltnachbarin meldete ihre Beobachtung Ende August 2008 dem Potsdamer Jugendamt. Sprecher Brunzlow sagte, bei einer Überprüfung sei nichts Auffälliges festgestellt wurden.

So griff das Jugendamt erst durch, nachdem die ehemalige Pflegetochter S. Mitte 2010 eine Strafanzeige stellte – inzwischen hat sie im Gegensatz zu ihren Geschwistern ihre Vorwürfe widerrufen. Laut Brunzlow stellte das Amt vor Gericht einen Antrag auf Überprüfung des Verbleibs der Kinder bei den früheren Pflegeeltern – im September 2011 sei das Sorgerecht entzogen und die Vormundschaft auf das Jugendamt übertragen worden. Die Kinder der ehemaligen Pflegetochter S. leben nun in einem Heim. Ein damals von der Stadt eingesetzter Gutachter stellte im Gericht fest, körperliche Strafen seien von den Angeklagten bagatellisiert worden. Offenbar habe sich die Gewalt in der Familie immer weiter gesteigert, auch weil kein Vertrauensverhältnis entstand.

Das Urteil in dem Fall wird am 27. Mai erwartet. Nach Belastungszeugen waren im Prozess zuletzt Verwandte und Freunde des Paars aufgetreten, die die Vorwürfe zu großen Teilen bestritten – aber leichte Schläge und Ziehen an den Haaren als Erziehungsmethoden einräumten.

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