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Landeshauptstadt: Eid in der siebenten Klasse

Zeitzeugin Birgit Willschütz ging trotz linientreuer Eltern in Opposition

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Die Vorzeichen sind eigentlich klar, als Birgit Willschütz geboren wird: „Juri Gagarin umkreist die Erde und meine Tochter Birgit erblickt das Licht der Welt“, vermerkt ihre Mutter, eine Dozentin am Institut für Lehrerbildung in Potsdam, damals im Tagebuch. Sie erzieht ihre Tochter „ganz im Sinn des Sozialismus“ – mit Erfolg: „Ich war ein treuer und gewissenhafter Pionier“, berichtete Birgit Willschütz am Dienstagabend bei einer Veranstaltung des Forum-Vereins zur kritischen Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte in der Heilig-Kreuz-Gemeinde in der Kiezstraße. Willschütz war eine von drei Zeitzeugen, die vor den rund 60 Zuhörern von ihren Erlebnissen mit Stasi-Verfolgung und Haft erzählten: Der seit 1986 im Münsterland lebende Schriftsteller Alexander Richter und der Potsdamer Architekt Christian Wendland erzählten ebenfalls bei der Veranstaltung mit dem Titel „Opfer der SED – Garanten des Mauerfalls“.

Dass Birgit Willschütz trotz „staatstragendem Elternhaus“ in Opposition ging, zeichnete sich bereits in der siebenten Klasse ab: Damals musste die Helmholtz-Schülerin erleben, wie ihre Klassenkameraden vor der Jugendweihe einen Eid leisten mussten, dass sie später Offiziere der Nationalen Volksarmee werden. Birgit Willschütz schüttelt heute noch den Kopf, wenn sie daran denkt: „Die waren noch ganz klein“, sagt sie: „Das hat mich damals wahnsinnig erschreckt.“

Gespräche mit den Eltern über die aufkommenden Zweifel seien unmöglich gewesen, erinnert sich Birgit Willschütz. Sie habe dann Kontakt zu den „Langhaarigen“ aufgenommen und bewegte sich zunehmend in Kirchenkreisen, etwa der Babelsberger Jugendgruppe „Schmiede“: „Zu diesen Andersdenkenden wollte ich dazugehören“, sagt Willschütz. Dass aus dem Traum vom Grafikstudium so nichts wurde, nahm sie in Kauf. Auch das Abitur an der Helmholtzschule wurde ihr wegen des Umgangs mit „feindlich negativen Kräften“ verwehrt.

Nach einer Ausbildung zur Chemielaborantin wurde die Potsdamerin dann doch noch zum Studium der Sozialfürsorge zugelassen. In dieser Zeit wurden sie und ihr Mann schon von der Stasi überwacht: Nachbarn berichteten von Hausdurchsuchungen. Eine Ausreise habe sie sich trotzdem nicht vorstellen können – aus Rücksicht auf die Familie: „Es gab ja die Sippenhaft.“

Erst als sich ihre eigene Tochter dem Einschulungsalter näherte, stellte sie dann 1984 den Ausreiseantrag: „Sie sollte hier nicht an die Schule müssen“, erklärt Birgit Willschütz. Sie wurde daraufhin nicht nur sofort exmatrikuliert, sondern verhaftet und ins Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße gebracht. Wegen „illegaler Verbindungsaufnahme“ zu Personen in Westdeutschland – sie hatte von ihrem Ausreiseantrag auf einer Postkarte an einen Freund im Westen berichtet – wurde sie zu einem Jahr und zwei Monaten Haft verurteilt.

Bis August 1985 saß sie die Strafe im Frauengefängnis Hoheneck ab – erst dann kam sie durch eine Freikaufaktion nach West-Berlin, wo sie bis heute lebt. An die Gefängniszeit hat sie schlimme Erinnerungen: Auf Hoheneck saß sie gemeinsam mit Mörderinnen und auch drei NS-Verbrecherinnen. „Dass man mit denen zusammen sein musste, hat mich angeekelt“, erzählt Birgit Willschütz.

Manfred Kruczek vom Vorstand des Forums-Vereins würdigte die drei Zeitzeugen für ihre Zivilcourage, die sie zu Wegbereitern des Mauerfalls gemacht habe. „Opfer müssen als Zeitzeugen stärker in die Schulen gehen“, sagte Linda Teuteberg, Forum-Vorstand und neue FDP-Landtagsabgeordnete. Jana Haase

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