
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: „Ein absoluter Brennpunkt“
40 Prozent der Weidenhof-Schüler sind Migrantenkinder. Die Schulleitung ist mit kaum beherrschbaren Problemen konfrontiert
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Im Direktorenzimmer stapeln sich die Playmobil-Kisten. Sie stehen am Schreibtisch von Ute Goldberg und versperren fast den Ausgang. Die Boxen sind gefüllt mit bunten Männchen und Autos. In einem ist ein komplettes Schulhaus mit Klassenräumen, Tafeln und einer Uhr am Eingang. „Die Schule ist doch ideal für unsere Flüchtlingskinder“, sagt Goldberg. „Ich weiß nur nicht, wohin damit.“ Goldberg leitet die Weidenhof-Grundschule im Schlaatz und das Platzproblem ist noch das geringste, mit dem sie derzeit kämpft. Der Anteil an Migrantenkindern liegt bei über 40 Prozent. Für die Kinder gibt es weder Förderräume noch Zusatzpersonal.
Gleich nebenan, an der Alten Zauche, ist das Flüchtlingsheim der Stadt. Wenn neue Familien kommen, erhält Goldberg ein Fax vom Einwohnermeldeamt mit Kindernamen, die sie aufnehmen muss. Das Heim liegt im Einzugsbereich der Schule – kurze Beine, kurze Wege. Goldberg lädt dann die Eltern ein. Neulich kam ein Vater mit seinen Kindern aus Albanien. Sie sprachen weder Deutsch noch Englisch. „Wir können leider kein Albanisch“, sagt Goldberg. Über eine Handy-App habe man sich verständigt. Immerhin wurde viel gekichert.
Elf Flüchtlingskinder kamen im August hinzu, drei im September, drei im November. „So geht das fröhlich weiter“, sagt die 50-Jährige mit dem ihr eigenen Humor. Sie sagt auch: „An Januar mag ich noch gar nicht denken.“ Nächstes Jahr wird Potsdam mehr Unterkünfte für Flüchtlinge bereitstellen müssen – eine auch in der Nähe des Arbeitsamts im Horstweg. Goldberg ist sich sicher: Die Kinder wird sie auch aufnehmen müssen, „meine lieben bunten Kinder“, wie sie sagt.
64 von ihnen erhalten zusätzlichen Deutschunterricht. Einen Förderraum haben sie nicht. So gehen sie hin, wo frei ist, die Lehrer schleppen Materialien wie die Playmobil-Schule hin und her, zu fünft sitzen sie in viel zu großen Fachräumen. Dabei wäre es wichtig, sagt Goldberg, dass die Kinder hier ankommen, ein Bild von ihrem Land könnte in dem Raum hängen. Nun sind im Treppenhaus die 28 Flaggen der Länder, aus denen die Kinder in der Weidenhof-Grundschule kommen, an die Wände gemalt, zusammen mit „Willkommen“ in den verschiedensten Sprachen.
Der Schlaatz gilt als sozial schwacher Raum. Goldberg hat keine freien Lehrerkapazitäten, alle sind ausgelastet. Zusätzliche Förderstunden in Deutsch, die das Schulamt genehmigt, kann niemand erteilen. Abgesehen davon, dass niemand für „Deutsch als Fremdsprache“ ausgebildet ist. Eigentlich bräuchte die Schule einen zusätzlichen Lehrer für diese Kinder.
„Weidenhof ist ein absoluter Brennpunkt“, sagt Sabine Bittrich vom Jugendmigrationsdienst. Dort bestehe akuter Handlungsbedarf. „Da haben wir die Rütli-Schule noch mal.“ Noch ist der Vergleich mit der Schule in Berlin-Neukölln, die 2006 Jahren Schlagzeilen machte, als Lehrer der Gewaltsituation nicht mehr Herr wurden, von außen nicht nachvollziehbar. Man kann nur erahnen, mit welchen Problemen die Schule zu tun hat.
Etwa, wenn Goldberg davon spricht, wie schwierig es sei, wenn ein tschetschenisches und syrisches Kind diskutieren, ob der IS gut oder schlecht ist. Oder wenn Goldberg den Boxball zeigt, der im Förderraum für lese- und rechenschwache Kinder in der Ecke steht. Manchmal überreicht sie einem der Kids die Handschuhe zum Abreagieren. Kürzlich musste sie einem Jungen Hausverbot erteilen.
„Die Not ist groß“, sagt Elisabeth Kuck. „Die Schule ist über dem Limit.“ Kuck war selbst Grundschullehrerin. Heute gibt die 70-Jährige einmal in der Woche den Flüchtlingskindern Nachhilfeunterricht im Hort. Wie auch Franziska Donner, die früher das Berliner Büro der „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) leitete. Die beiden Damen engagieren sich seit mehreren Jahren ehrenamtlich im Flüchtlingsheim an der Alten Zauche. Sie kennen die Eltern der Kinder, begleiten sie bei Behördengängen und haben ein Vertrauen aufgebaut, das die Familien weder zu Schule noch Hort haben.
Da war es für beide selbstverständlich, dass sie auch im Hort „Schulkinderhaus“ des Internationalen Bundes helfen. „Die Eltern sind so schwer belastet und beschäftigt mit der Stabilisierung ihrer Situation“, sagt Franziska Donner. Man könne nicht noch verlangen, dass sie schnell gut Deutsch lernten. „Aber bei den Kindern kann man ansetzen. Sie sind der Hebel für die Zukunft dieser Familien.“ Deshalb seien Hort und Schule so wichtig. „Bei diesen Kindern können wir erreichen, dass sie einen guten Weg gehen in Deutschland.“
Sihaams liebstes Buch ist „Das Dschungelbuch“. Sie hat es mit und schlägt es auf, darin will sie lesen im Hort. Sie plappert auf Deutsch los, ihre Eltern hatten im Wohnheim Blätter mit der deutschen Deklination an die Tür geklebt. „Schau mal, da ist der Tiger“, ruft die Siebenjährige. Den Tiger mag das somalische Mädchen mit den schwarzen Zöpfchen am meisten. „,Das Dschungelbuch’ war schon mein Lieblingsbuch“, sagt Kuck zu ihr.
Kamsan ist auch erst sieben, ein stiller Junge aus Tschetschenien. Als er ankam, habe er mit finsterem Gesicht dagesessen, erzählt Hortleiterin Martina Wernicke. Wie um sich zu wappnen für alles, was noch kommen möge. Jetzt führt Kamsan sein Leselineal über die Buchzeilen. Mit den Damen kann er nicht anders als lernen. Franziska Donner kennt Kamsans Familie. Mit ihm und den drei Geschwistern geht sie manchmal in die Stadt – Eis essen, Schulsachen kaufen. Die Verkäuferin im Papierwarenladen habe ihr einen Rabatt angeboten, erzählt die 71-Jährige. „Wenn ich mit den Kindern unterwegs bin, habe ich nie schlechte Erfahrung gemacht.“
Im Hort wussten die Erzieherinnen oft nicht, wie sie den ausländischen Kindern vermitteln, dass sie Hausaufgaben machen sollen. Bei Kuck und Donner gibt es kein „Sollen“ und „Müssen“. Die Frauen sind einfach da. „Die Kinder brauchen viel Zeit, Liebe und Zuwendung“, sagt Kuck.
Die beiden haben sich, bevor sie im Hort ihre Arbeit begannen, in der Lehrerkonferenz vorgestellt. „Sie haben uns die Augen geöffnet“, sagt Schulleiterin Goldberg. Die Damen erzählten, was die Flüchtlinge hinter sich haben. Manch Kind sah, wie Angehörige erschossen wurden, wie die Eltern bei der Flucht übers Mittelmeer ertranken. Kuck und Donner sagten den Lehrern, dass es unwichtig sei, ob die Kinder mit einer Federmappe kommen. Seitdem stellt die Schule Stifte und Mappe.
An diesem Nachmittag wird Franziska Donner wieder Kamsan durch Potsdam begleiten. „Kamsan“, ruft sie ihm noch hinterher, als er aus dem Hortraum geht, „wir fahren nachher zusammen zum Judo.“
Grit Weirauch
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