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ZUR PERSON: „Ein Herkulesprojekt“

Einmalig in der Forschung: Potsdamer Militärhistoriker schließen nach 30 Jahren Weltkriegswerk ab

Stand:

Als 1979 die ersten beiden Bände von „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ erschienen sind, war Ihnen da bewusst, dass es fast 30 Jahre dauern würde, bis Sie diese Reihe zum Abschluss bringen können?

Rolf-Dieter Müller: Nein, natürlich nicht. Wir waren damals eine Arbeitsgruppe von 15 Wissenschaftlern und sind davon ausgegangen, dass innerhalb weniger Jahre dieses Projekt abgeschlossen sein würde.

Warum dann dieser doch relativ lange Zeitraum?

Müller: Damals kamen riesige Mengen von Wehrmachtsakten aus amerikanischen Beutebesitz zurück nach Deutschland. Zuerst haben wir diese Massen an Wehrmachtsbürokratie regelrecht durchgeforstet. Dann haben die ersten Bände die Diskussion um die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Geschichte angestoßen. Bis dahin hatte sich eine kritische Faschismusforschung vor allem auf die 30-er Jahre konzentriert. Jetzt kamen die Konzentrationslager, die Zwangsarbeiter in die Debatte. In den 80er Jahren mit dem Schwerpunkt des vierten Bandes, dem Angriff auf die Sowjetunion, dann die großen Themen Wehrmacht, Verbrechen der Wehrmacht, Ostkrieg und Vernichtungsfeldzug. Das hat uns gezeigt, dass eine intensive und zeitaufwendige wissenschaftliche Auseinandersetzung lohnt.

Hans Ehlert: Die Bände waren von Anfang an als Gemeinschaftswerk mehrerer Wissenschaftler und nicht als Monografien einzelner Autoren zu je einem Thema angelegt. Wenn aber vier oder sechs Leute in einem Forschungsteam arbeiten, kann es durchaus sein, dass es zu unterschiedlichen Ansichten kommt. So hat die Bewertung des Angriffs auf die Sowjetunion und in dem Zusammenhang die Präventivkriegsfrage im vierten Band zu einer solchen unterschiedlichen Bewertung geführt. Wir haben diese Auseinandersetzungen ausgetragen. Sie finden in dem betreffenden Band ihren Niederschlag, wo der eine Autor die Akzente so, der andere sie so setzt. Wir haben zwar Abgabetermine festgesetzt, doch die waren unter diesen Umständen in den seltensten Fällen einzuhalten.

Auch zeitgeschichtliche Ereignisse wie die Wende werden nicht ohne Einfluss auf die Forschungsreihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ geblieben sein.

Müller: Die Arbeitsgruppe hat durch die Verlegung von Freiburg nach Potsdam zwei Drittel ihrer erfahrenen Mitarbeiter verloren, was die Arbeiten erheblich zurückgeworfen hat. Die Wende 1989 war für das MGFA aber auch ein Glücksfall. Durch die dramatischen Veränderungen waren die russischen Archive für kurze Zeit zugänglich geworden. So konnte die Problematik des Ostkrieges durch die neue Aktenlage auf eine andere Stufe gehoben werden. Auch hat sich in den vergangenen 15 Jahren in den osteuropäischen Staaten eine kritische Forschung entwickelt, die wir in unser Projekt einbeziehen konnten.

Was war der konkrete Anlass, sich in den 70-er Jahren so intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen?

Müller: Das Amt erhielt vom Verteidigungsminister den Auftrag, den Zweiten Weltkrieg zu erforschen, womit wir eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe übernommen haben.

Ehlert: Aber ohne eine Vorgabe von Ergebnissen, wie es beispielsweise in der militärgeschichtlichen Forschung in der DDR üblich war.

Aber gerade das Militärgeschichtliche Forschungsamt als Einrichtung der Bundeswehr wurde immer sehr kritisch beobachtet, weil manche befürchteten, hier würde gelenkte Geschichtsschreibung betrieben.

Ehlert: Jede Einrichtung, die sich in Deutschland mit dem Thema Militär und Krieg auseinandersetzt, steht immer im kritischen Fokus der Öffentlichkeit. Die Bundeswehr hat mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt die größte Forschungseinrichtung dieser Art in Deutschland. Hier arbeiten 35 Wissenschaftler. Mit dieser Reihe haben wir gezeigt, dass es keine Dienststelle ist, die ein offizielles Werk schreibt, sondern dass hier Historiker arbeiten. Der Kern von Militärgeschichte in unserem Amt besteht darin, dass es keine amtliche Auffassung gibt. Wir schreiben nicht, was der Minister oder die jeweilige politische und militärische Führung von uns hören will, sondern das, was sich aus den Quellen nach kritischer und analytischer Durchleuchtung ergibt.

Gab es Versuche der Einflussnahme seitens der Politik?

Ehlert: Nein, das habe ich nie erlebt.

Zehn Bände mit über 12 000 Seiten über den Zweiten Weltkrieg. Ist die Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ als reine Wissenschaftslektüre konzipiert?

Müller: Natürlich ging es uns darum, die Wissenschaft in ihren Möglichkeiten zu erweitern. Aber auch ein breites Publikum und die Soldaten der Bundeswehr wollen wir damit erreichen, vor allem auf dem Weg der historischen Bildung über unsere Zeitschrift „Militärgeschichte“ und andere Medien.

Hat das Forschungsprojekt auch über die Grenzen Deutschlands hinaus Bedeutung?

Ehlert: Natürlich, es gibt mittlerweile eine komplette englische Übersetzung und geplant ist eine in Russisch.

Ist es heute eigentlich noch möglich, in diesem Umfang zu forschen oder wird dieses Projekt einmalig bleiben?

Müller: Das wird hier im Haus einmalig bleiben. Geschichtswissenschaft ist etwas für Individualisten. Die Arbeit in den Teams hat sich nicht immer als einfach dargestellt. Der Pluralismus an Methoden und Interpretationen kann jedoch auch ein Gewinn sein.

Sind jetzt nach 30 Jahren und dem derzeitigen Forschungsstand in Sachen Zweiter Weltkrieg die ersten Bände nicht überholungsbedürftig?

Müller: Das ist eine interessante Frage, wenn man beispielsweise eine Paperbackausgabe auf den Markt bringen will. Und natürlich ist in den vergangenen 30 Jahren eine Fülle an Literatur zum Thema erschienen. Wir wissen jetzt im Detail manches zwar noch genauer, doch in den großen Zügen ist es nicht notwendig, Korrekturen vorzunehmen.

Ehlert: Wir sind nicht so vermessen zu glauben, dass in den nächsten 100 Jahren das Weltkriegswerk uneingeschränkt Bedeutung haben wird. Jede Generation stellt an die Vergangenheit andere Fragen. Aber jetzt ist es als deutschsprachige Gesamtdarstellung abgeschlossen, ein Herkulesprojekt, das in der deutschen Geschichtswissenschaft einmalig ist, und ich bin mir sicher, dass es sehr lange in Deutschland nichts Vergleichbares geben wird.

Müller: Überholt im Sinne von entbehrlich wird es nicht werden. Das ist ein Schatz, eine ungeheure Fundgrube, von der viele profitieren können.

Welche Aufgaben wird das Militärgeschichtliche Forschungsamt nun nach Abschluss der Arbeit am Weltkriegswerk wahrnehmen?

Ehlert: Wir werden im kommenden Jahr eine neue Forschungsanweisung bekommen, deren Schwerpunkt auf der deutschen Militärgeschichte im Zeitalter der Weltkriege liegen könnte. Der Erste und der Zweite Weltkrieg sind ja sehr eng miteinander verbunden und wir wenden uns schon jetzt verstärkt dem Ersten Weltkrieg zu. Der Erste Weltkrieg ist in Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien, bisher eher stiefmütterlich behandelt worden, auch durch uns. Aber etwas Vergleichbares wie „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ wollen wir nicht auch über den Ersten Weltkrieg machen.

Müller: Der Zweite Weltkrieg war die größte Katastrophe nicht nur in der deutschen sondern auch in der europäischen Geschichte. Der Erste Weltkrieg aber war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, Ausgangspunkt für große umwälzende Veränderungen und Entwicklungen, die in die Katastrophe Zweiter Weltkrieg mit hineingeführt haben. Und gerade in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Epochen übergreifenden Entwicklungen in diesem Zeitraum liegt eine große Herausforderung. Aber das heißt nicht, dass für uns der Zweite Weltkrieg abgeschlossen ist, auch da werden wir im Amt weiterhin verantwortungsvolle Forschung betreiben.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Die Buchpräsentation findet am 6. Mai um 19 Uhr in der Bertelsmann-Repräsentanz, Unter den Linden 1 in Berlin statt.

Hans Ehlert, 1947 in Middels/Niedersachsen geboren, ist Oberst

und seit 2004 Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Potsdam.

Ehlert studierte

Geschichte, Politische Wissenschaft und Völkerrecht.

Seit 1984 ist er Historikerstabsoffizier

am MGFA und Leiter des Forschungsbereich „Militärgeschichte der DDR im Bündnis“.

Rolf-Dieter Müller, 1948 in Braunschweig geboren, ist wissenschaftlicher Direktor am MGFA und seit 2004 Herausgeber der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“.

Seit 1979 ist Müller Mitarbeiter im MGFA. 1999 wurde er zum Thema Albert Speer und die deutsche Rüstungspolitik im totalen Krieg habilitiert, zwei Jahre später Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. D.B.

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