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Lust am Text. Roland Barthes.

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Von Mark Minnes: Ein Leben für den Text

Der Potsdamer Romanist Ottmar Ette präsentiert mit einer Publikation den französischen Denker Roland Barthes

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Tadellose Kleidung, schelmisches Lächeln, angedeutete Schmalzlocke – das Foto des französischen Philosophen und Literaturtheoretikers Roland Barthes ist das Emblem einer Epoche. 1915 geboren, hatte Barthes bis zu seinem Unfalltod 1980 fast sein ganzes Leben in Paris zugebracht – im pochenden Herzen der damaligen akademischen Supermacht Frankreich. Kaum ein Großdenker des 20. Jahrhunderts, der es sich bis in die 1980er Jahre erlauben konnte, die Pariser Intellektuellenszene zu vernachlässigen. Roland Barthes war so etwas wie der bekannteste Geheimtipp einer Zeit, in der ein Frühstück ohne die neuesten Skandale aus der Welt der Intellektuellen, einen starken französischen Kaffee und eine filterlose Zigarette nicht auskam – selbst wenn man wie Barthes chronisch lungenkrank war. Alles war, so scheint es, eine Frage der Haltung.

Existentialisten in den Pariser Cafés, die vermeintliche Revolution von 1968, westlicher Marxismus, Psychoanalyse, Feminismus, Exilanten von beiden Seiten des eisernen Vorhangs: Barthes lebte im Auge eines Orkans. Dieser Sturm des Denkens wird nun dank des Potsdamer Romanisten Professor Ottmar Ette wieder etwas zugänglicher. Ettes Neuübersetzung und Kommentar von Roland Barthes „Die Lust am Text“ lädt jeden, der es wagt, auf eine wahrhaftige Achterbahnfahrt à la française ein. Wie Ette jüngst bei der Präsentation seiner Neuausgabe von „Die Lust am Text“ betonte, ist es durchaus möglich, den 1973 erschienenen Band als das heimliche Zentrum von Barthes kompliziertem Werk zu betrachten. Das schmale Büchlein präsentiert nichts weniger als eine Lebensphilosophie, die Barthes seinen Lesern wie eine Verlockung vorlegte. Somit hat der Leser der Neuausgabe nun die Gelegenheit, gleich doppelt in das Auge des Sturms vorzudringen: sowohl zeit-, als auch werkgeschichtlich.

„Der Text, den Sie schreiben, muss mir den Beweis erbringen, dass er mich begehrt.“ Dieser Satz sagt viel darüber aus, worauf Barthes in „Die Lust am Text“ hinaus will. Er möchte nicht nur beschreiben, was es bedeutet, einen guten Text zu verfassen. Er möchte nicht nur die Autoren kritisieren, die nur eine „Nachfrage“ seitens des Publikums bedienen. Barthes möchte vielmehr die heimlichen Motive aufdecken, welche uns wie Abhängige an der Nadel des Sinns hängen lassen. Barthes erforscht das tragikomische Bestreben von Autor und Leser, sich irgendwie zu begegnen. Wie ein Voyeur, der Menschen auf der Straße folgt, durchforstet Barthes die Literatur nach den stillen Peinlichkeiten, den verräterischen Bekenntnissen, großen und kleinen Perversionen. Er entlarvt Autor und Leser als abhängige Wesen, die sich gegenseitig begehren, „anbaggern“ und schließlich kaum noch zu unterscheiden sind: Wer gut schreibt, so könnte man sagen, begehrt den Leser. Und wer gut liest, der wird zum Autor und produziert Sinn aus der Sinnlichkeit des Texts.

Damit verließ Barthes im Jahr 1973 die sichere Schutzhütte der Wissenschaft, die ihn bislang vor allzu harscher Kritik bewahrt hatte. „Die Lust am Text“ ist ein intimer, eigenbrötlerischer, aber daher offener, ja zutraulicher Text. Barthes, der sein Privatleben schützte und mit seiner Mutter in bescheidenen Verhältnissen lebte, entlarvte sich als größter Konsument und größter Verbreiter seiner bevorzugten Droge: dem Text. Dies tat er jedoch nicht in einer wissenschaftlichen Abhandlung. „Die Lust am Text“ ist eine Collage aus Zitaten und Assoziationen, Textbausteinen und verwirrenden Strukturen. Barthes zeigt mit dem Text an, was er meint, aber er liefert kein Fazit.

Somit ist es ein Glücksfall, dass der Barthes-Spezialist Ette sich der Sache angenommen hat. Seine deutsche Neuausgabe von „Die Lust am Text“ bietet eine Fülle an Materialien und Erläuterungen. Ettes Kommentar spannt den Bogen von den wilden Pariser Tagen bis zur Gegenwart, wo Barthes als Verfasser von sehr kurzen „Mikro-Texten“ und als Theoretiker des Lesens sogar Disziplinen wie den Kognitionswissenschaften etwas zu sagen hat.

Wenn Barthes über den Eigensinn des Körpers beim Lesen nachdenkt, lustvoll Körper und Geist miteinander kämpfen lässt, dann scheint er aktuelle Grenzfragen von Psychologie und Hirnforschung zu erfassen, von denen er nichts ahnen konnte. Gleichzeitig präsentiert uns Ottmar Ette einen Barthes, der uns eine „Lektion in Aufrichtigkeit“ erteilt. In einer Welt voller Konkurrenz und erhitzter Debatten machte er sich mit seinem kleinen Buch angreifbar. „Die Lust am Text“ riskiert Unverständnis, Ablehnung, sogar Spott. Dass wir, wie Barthes, mehr Mut haben sollten, dieses Risiko einzugehen – diese Botschaft wird niemals an Aktualität verlieren.

Roland Barthes: Die Lust am Text. Kommentar von Ottmar Ette. Berlin: Suhrkamp 2010.

Mark Minnes

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