Landeshauptstadt: Ein Lichtjahr bis Lichtenberg
Der Berliner Bezirk Lichtenberg hat bei der Bürgerbeteiligung zur Haushaltsaufstellung ein Jahr Vorsprung gegenüber Potsdam. Bürgermeisterin Christina Emmrich sagt: „Parteienstreit ist das Dümmste“
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In Lichtenberg gehen Einwohner auf die Barrikaden: Gegen Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (PDS), gegen die Verwaltung und gegen die Bezirksverordneten. Sie schimpfen, sie diskutieren, sie zweifeln an und sie schlagen vor. Sie äußern Ideen, wie die zur freien Verfügung stehenden Gelder in einem Haushalt besser ausgegeben werden könnten. Das Szenario am Anfang eines Jahres ist gewollt in dem Berliner Bezirk mit 235 000 Einwohnern – „partizipative Haushaltsaufstellung“ nennt es Christina Emmrich, seit drei Jahren wird der Bürgerhaushalt praktiziert. Zwischen Berlin-Friedrichshain und -Marzahn wurde in dieser Zeit umgesetzt, wovon Potsdam trotz Bürgerhaushaltsphase II noch ein Lichtjahr entfernt ist: eine repräsentative Bürgerbeteiligung an der Haushaltsaufstellung.
Konsens unter den verschiedenen politischen Fraktionen sei zu Beginn des Weges am wichtigsten, sagt die PDS-Bürgermeisterin Christina Emmrich auf einer Podiumsdiskussion der Potsdamer Genossen am Dienstagabend im Stadthaus: „Parteienstreit ist dabei das Dümmste was man machen kann.“ Einen Start mit Friedenspfeifen haben die Stadtverordneten der Landeshauptstadt verpasst. Ein Grundproblem, so die Ortsbürgermeisterin von Groß Glienicke Doris Maria Langenhoff (SPD), über den Verlauf des gesamten Potsdamer Prozesses zum Bürgerhaushalt. Die Parteien wollen ihn, jedoch jede auf ihre Weise: „Die Fronten sind verhärtet“, sagt sie.
Hans-Jürgen Scharfenberg als Fraktionschef der Linken kündigte am Dienstag dennoch einen eigenen Verfahrensvorschlag seiner Partei an, auch Kämmerer Burkhard Exner (SPD) will einen eigenen Verfahrensvorschlag der Verwaltung vorlegen. Ohne die Worte “das ist der falsche Weg“ zu benutzen, rät PDS- Bürgermeisterin Emmrich, sich mit allen anderen Fraktionen in einem Kämmerlein zu einigen, um den Bürgerhaushalt auf einen guten Weg zu bringen. So wie in Lichtenberg: Bequem hätte es die Bürgermeisterin in ihrem Bezirk haben können. Immerhin regiert sie mit einer sicheren Mehrheit. Doch das sei zu einfach, erklärt die Wahl-Berlinerin, die aus Leipzig stammt. In der Bezirksverordnetenversammlung müssten die Entscheidungen über Bürgervorschläge zum Haushalt einstimmig gefällt werden, damit alle an einem Strang ziehen. Das Prozedere sei vor dem Prozess der „partizipativen Haushaltsaufstellung“ zwischen den Fraktionen ausgehandelt worden.
Und noch etwas sei von besonderer Wichtigkeit: den Bürgern keinen Haushaltsentwurf mit auf den Weg zu geben, sondern sie frei über vorher festgelegte Positionen im Haushalt beraten zu lassen. Daher wurde in Lichtenberg in der vergangenen Woche über 42 Bürgervorschläge, die durch ein langes Auswahlverfahren bis in die Endredaktion kamen, entschieden. Vier wurden abgelehnt, die verbliebenen 38 soll die Verwaltung mit Emmrich an der Spitze nach der einstimmigen Entscheidung nun in den Haushalt einbauen – in den Haushalt 2007 wohlgemerkt.
Dazu zählt auch der Bürgerauftrag, die Zuschüsse für die Musikschule von jährlich 400 000 Euro zu senken. Dazu will Emmrich einen Plan „Musikschule 2010“ erarbeiten. Ein zweiter Punkt der Bürgervorschläge: die Bibliotheken. Vier Medienverleihe leistet sich der Bezirk, der Neubeschaffungsetat liegt bei 400 000 Euro. Mittel, die die Bürger erhöht sehen wollten. Dies wäre zu Lasten der Öffnungszeiten gegangen, so Emmrich, da der Gesamtetat nicht hätte erhöht werden können. Also kam der Vorschlag, mehr Sachliteratur anstatt Romane anzuschaffen.
32 Millionen Euro an so genannten „freiwilligen Ausgaben“ der Verwaltung konnten in Lichtenberg diskutiert werden, sagte Emmrich. In Potsdam beträgt die Summe derer etwa 30 Millionen. Exner kann sich vorstellen, sie insgesamt in den Raum der Diskussion zu geben.
Während Lichtenberg den Bürgerwillen für 2007 bereits eingefordert hat und nun einarbeitet, wurde in Potsdam in der Vorwoche das Verfahren zum Haushalt 2006 mit einer Wahlveranstaltung der Fraktionen beendet. Einige Wochen, nachdem der Haushalt der Kommunalaufsicht zur Anfrage auf Bewilligung übergeben wurde. „Parallelverfahren“ nannte Scharfenberg den laufenden Potsdamer Prozess zum Bürgerhaushalt. 30 Potsdamer haben sich bis dahin aktiv an den drei Foren zum Bürgerhaushalt beteiligt, 96 Vorschläge gab es insgesamt, alle wurden von der Verwaltung überprüft, kommentiert und zur Diskussion gestellt. Und in Lichtenberg?
Mehr als 4000 Bürger haben sich dort beteiligt, fünf Veranstaltungen in fünf verschiedenen Gebieten des Bezirkes fanden statt, Schüler haben auf Drängen der Bürgermeisterin die Thematik Bürgerhaushalt im Schulunterricht behandelt sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten im Internet genutzt, auf dem 30 000 Euro teuren Bürgerhaushalt-Online-Portal des Bezirkes konnte abgestimmt werden und der Bezirk verschickte an 5000 per Zufall ausgewählte Einwohner die Bögen zur Haushaltsmitwirkung. „Wer seinen Hintern dann nicht aus dem Bett kriegt und einen Punkt an die Pinnwand klebt, hat einfach Pech gehabt“, sagt Emmrich. Etwa 140 durch ein Bürger-Punktesystem ausgewählte Vorschläge kamen in eine Endredaktion. Dabei konnte jeder Lichtenberger fünf Punkte an einen oder verschiedene Haushaltsvorschläge pinnen, die mit den meisten Stimmen kamen in die Endauswahl. Nun lässt der Bezirk sein Verfahren evaluieren (die Studie soll Mitte Mai vorliegen), die Bundeszentrale für politische Bildung hat ein Auge auf den Prozess und externe Sachverständige wurden zur Hilfe beauftragt. Als Ergebnis gilt Lichtenberg in Deutschland als führend bei der Bürgerbeteiligung. Der jährliche Etat dafür: 125 000 Euro.
Potsdams Kämmerer Exner hatte im Vorjahr keinen Cent zur Verfügung gestellt, im nächsten Jahr sind es 50 000 Euro. Er kennt das Modell der Lichtenberger und sieht durchaus Möglichkeiten, dem zu folgen. Doch sieht auch er die zerklüftete Politlandschaft ohne klare Mehrheiten als Hauptproblem an.
Parteianimositäten beachtete Emmrich am Dienstag in Potsdam nicht. Seitenhiebe bis ins Mark der eigenen Kollegen verteilte sie und durchkreuzte die Argumentation des im Plenarsaal auf dem Stuhl des Oberbürgermeisters sitzenden Hans-Jürgen Scharfenberg. Wie bei der Frage nach Prestigeprojekten. Emmrich: Das könne man machen. Die Sanierung des Rathauses hätte drei Millionen Euro gekostet und wurde durchgeführt, bevor die benachbarte Schule dran war. Und Projekte, die mit Hilfe von Fördergeldern durchgeführt werden? Emmrich: Ja, man müsse den Leuten erklären, dass die Fördergelder sonst nicht fließen würden. Ihr Bezirk stelle 3,5 Millionen Euro Eigeninvestitionen zur Verfügung und bekomme 18 Millionen Euro Förderung. Diese würde es sonst nicht geben.
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