MITgefühlt: Ein- Nisten
Heute noch schnell aus dem Haus heraus. Ein letzter Blick auf den Balkon.
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Heute noch schnell aus dem Haus heraus. Ein letzter Blick auf den Balkon. Letztes Jahr hatte sich ein seltsames Gebilde – anscheinend aus Erde – zwischen dem Balkon der Nachbarin von oben und der Dachrinne entlang der Mauer gebildet. Eine Freundin hat gefragt, ob es sich nicht zufälligerweise um gefährliche Spinnen handeln könnte. Ein Freund hat gemeint, es könnten alles fressende Termiten sein. Andere haben empfohlen, den Vorfall sofort bei der Stadtverwaltung zu melden, damit das Objekt sofort entfernt wird. Äußerst beunruhigt habe ich die Entwicklung des Monstrums genau beobachtet. Wochen danach schlüpften kleine süße Köpfe aus dem Rand heraus und haben mich beim Lesen in der Hängematte beobachtet. Es waren Schwalben, die mich bis zum Herbst musikalisch vergnügt haben. Eine Freundin habe ich gefragt: „Warum denken die Menschen hier, wie zum Beispiel in Science- Fiction-Filmen, dass jemand aus der Fremde ungedingt Zerstörung mit sich bringen muss?“ Sie hat geantwortet: „Sie wissen genau, was sie selber in der ganzen Welt getan haben.“ Es war eine eindeutige Feststellung. Aber jetzt scheint die Sonne und Meisen und Amseln zwitschern im Chor. Sie wissen, wie es ist: Nichts darf die Frühlingsstimmung verderben.
Die Aufzugstür öffnet sich: „Ihr zieht doch wieder ein, ihr Ausländer“, schreit die Lieblingsnachbarin aller heraus. Sie ist in der gesamten Nachbarschaft dafür bekannt, dass sie auf alles und alle schimpft. Dabei hat sie bevorzugte Themen. Schnell die Treppe herunter, um eine zweite Wortsalve zu vermeiden. Aber sie spaziert noch in der Eingangshalle herum und erfasst mit einem Blick eine andere Nachbarin mit russischer Migrationsgeschichte und mich: „Sorgt dafür, dass ihr wegkommt, ihr Ausländervolk“, ruft sie noch nach. Warum sollten wir, dachte ich, es ist so schön bei Ihnen! Weiterhin scheint die Sonne, Meisen und Amseln zwitschern immer noch im Chor.
Eines Tages an einer Haltestelle musste ein junger, angetrunkener, schimpfender Mann mit vehement geäußerter Betonung der eigenen deutschen Urgeschichte einen Plastikbecher auf mich werfen. Das fliegende Objekt hat dank der ungenauen Flugbahn und meiner Ausweichbewegung nie sein Ziel erreicht. Der junge Mann tat mir aufrichtig leid: „Weißt du, wenn du mich beschimpfen möchtest, lerne zumindest richtig Deutsch. Die deutsche Literatur rühmt sich unzähliger Schriftstellerinnen und Dichter. Und in Potsdam fehlt es nicht an Bibliotheken.“ Er wollte schon auf mich los, aber seine Freunde haben ihn davon abhalten können.
Zu einer schönen Ausstellung im Landtag führte anschließend heute der Weg. Sie zelebrierte unter anderem ein friedliches, fröhliches, inspirierendes Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Religionen und Kulturen. Was glänzt hier von Potsdam im Sonnenschein? Die Hoffnung scheint und Schwalben, Meisen und Amseln zwitschern unbeirrt im Chor.
Marianne Ballé Moudoumbou wohnt in Potsdam und arbeitet als Diplom-Dolmetscherin. Ende 2010 wurde sie von rund einer Million Berliner und Brandenburger mit Migrationsgeschichte stellvertretend gewählt, um die Interessen der Gesellschaft im RBB-Rundfunkrat zu vertreten.
Marianne Ballé Moudoumbou
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