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Der Nachlass von Uriel Birnbaum wurde am Potsdamer Mendelssohn-Zentrum aufgearbeitet
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Für Uriel Birnbaum muss Papier das wichtigste Lebensmittel gewesen sein. Poet und Maler zugleich, gehört er zu den wohl produktivsten Künstlern des vergangenen Jahrhunderts. Und zu den erfolglosesten. Sein Leben und seine Kunst waren geprägt von einem Erweckungserlebnis, das den 19-Jährigen zu einem tief religiösen Menschen machte. Den Ersten Weltkrieg sah der 1894 Geborene als Gottes Fügung an, der er sich freiwillig stellte und die er schwer verwundet überlebte. Zunächst gelang es ihm noch, einige seiner expressionistischen Bilder zu veröffentlichen, doch der virulente Antisemitismus grenzte den jüdischen Künstler zunehmend aus. 1939 glückte ihm mit seiner Familie die Flucht in die Niederlande, wo er 1956 starb.
Ein halbes Jahrhundert später übernahm das Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) einen Teil des künstlerischen Nachlasses von Uriel Birnbaum als Schenkung und schrieb Praktika für dessen Erschließung aus. Etwas mehr als zwanzig Kisten mussten sortiert und eine geeignete Software für die zu erstellende Datenbank gefunden werden, weil die Bibliothek des Forschungszentrums für europäisch-jüdische Studien zwar auf Nachlassbibliotheken spezialisiert ist, aber noch nie einen künstlerischen Nachlass wie diesen aufgenommen hat.
Dem Online-Findbuch ist die redaktionelle Mühe der Praktikanten Regina Thiele und Jens Brokfeld kaum mehr anzusehen, so selbstverständlich scheint die Ordnung, so übersichtlich ist der Aufbau. Kaum zu glauben, dass den beiden Studierenden der Informationswissenschaften von der Fachhochschule Potsdam für die Erfassung der 643 Archivmappen und die Erstellung der 1736 Scans, die in einer internen Datenbank zugänglich sind, nur ein Semester zur Verfügung stand. Ein knappes halbes Jahr, in dem sich die beiden ausführlich in das Werk Birnbaums einlasen und einsahen. Anders wäre es unmöglich gewesen, der Hinterlassenschaft dieses Künstlers gerecht zu werden.
Birnbaum, der zeitweise so arm war, dass er aus Papiermangel das Malen aufgeben musste, hat auf allem geschrieben, was sich beschreiben ließ. Allein über 5000 Gedichte und etwa 3000 Bildzeugnisse sind von ihm überliefert, das meiste davon wurde nie publiziert. Umschläge mit teilweise nur briefmarkengroßen Schnipseln zeigen, dass Birnbaum seine Ideen systematisch entwickelt und vorsortiert hat. Er muss immer eine Schere bei sich getragen haben, um aus den Notizen die Gedankensplitter für die verschiedenen Projekte wieder herausfiltern zu können.
Die Herausforderung war, so die Nachlassbearbeiter, die Gedankengänge des Künstlers nachzuvollziehen, seine Systematik zu verstehen, um sie rekonstruierbar nach archivarischen Erschließungsrichtlinien dokumentieren zu können. Ein Balanceakt. Denn solche Zeugnisse tätigen Schaffens lassen sich kaum wie fertige Bücher katalogisieren. Nachlässe sind die unsterblichen Überreste individuellen Lebens. Die Ordnungssysteme, in die sie eingepasst werden, müssen dem gerecht werden.
Auf den ersten Blick nimmt sich die Datenbank zu Birnbaums Nachlass nahezu spartanisch aus. Werke, Korrespondenzen, Lebensdokumente und thematische Sammlungen zu Birnbaum, mehr als diese vier Hauptkategorien umfasst die Systematik nicht. Erst im Anklicken fächert sich augenfällig die Persönlichkeit Birnbaums auf. Während unter „Werke“ die Lyrik eine eigene Rubrik bekommen hat, befinden sich alle anderen literarischen Gattungen unter „Prosa“ zusammengefasst. In „Arbeitsmaterialien“ sind Zeitungsausschnittssammlungen, Exzerpte und Arbeitsnotizen erfasst, während „Fragmente ohne Werkbezug“ die Grenzen der Rekonstruierbarkeit von Birnbaums konzeptionellen Entwürfen aufzeigen.
Birnbaum hat mit Vorliebe in Zyklen gearbeitet. Nicht in handhabbarer, übersichtlicher Weise, sondern überbordend. Die alphabetisch geordneten Typoskripte für den Gedichtzyklus „Leben in Liebe“ umfassen mehr als 2000 Blätter. Es ist anzunehmen, dass er dennoch unvollendet ist, so wie das Epos „Das Sternenschiff“, das Birnbaum als sein Lebenswerk ansah.
Das Praktikum ist vorbei. Regina Thiele und Jens Brokfeld, die nun ihre Studienabschlüsse vorbereiten, hoffen, dass der Nachlass rege genutzt wird. Die Schätze seien so reichhaltig, dass eine Ausstellung oder auch eine Edition der nachgelassenen Werke denkbar wäre. Lene Zade
Der Nachlass im Internet:
www.mmz-potsdam.de/birnbaum
Lene Zade
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