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POSITION: Ein Symbol für das Jahr 1989

Der Wahlbetrug am 7. Mai 1989 – ein Wettlauf zwischen SED und Zivilgesellschaft Von Christian Booß

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Der ehemalige Potsdamer Oberbürgermeister Wilfried Seidel wurde 1991 zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Seine Stellvertreterin Marlies Nopens und weitere Stadträte zu Geldstrafen von 90 beziehungsweise 60 Tagessätzen. Für manche ist das bis heute Siegerjustiz, in Wirklichkeit sind die Urteile die Folge des bürgerrechtlichen Engagements von Potsdamern gegen die Fälschung der Potsdamer Kommunalwahlen am 7. Mai 1989.

Ende 1988 hatten sich mehrere kirchliche Gruppen auf einem DDR-weitem Friedenstreffen verabredet, diesmal die Wahlen zu kontrollieren. Wirklich freie Wahlen hatte es in der DDR nie gegeben, schon lange wurde gemunkelt, dass die hohen Zustimmungswerte nicht nur das Ergebnis von Einschüchterung, sondern auch von Manipulation waren.

In Potsdam wollte die Gruppe „Kontakte“ die Wahl beobachten. „Wir wollten den Staat mit den Mitteln des Staates entlarven,“ erinnert sich der damalige Schüler Volker Wiedersberg. Auch die Staatsseite breitete sich vor. Die Stasi sollte unter dem Codewort ‚Symbol 89‘ die Wahlen sichern, Nichtwähler identifizieren, Proteste vorbeugend ersticken.

Für die herrschende Partei, die SED, ging es ums Ganze. Parteichef Honecker wollte den reformorientierten Staaten des Ostens, Polen und Ungarn und sogar der Sowjetunion, beweisen, dass seine DDR stabil war. Hohe Funktionäre aus dem ZK der SED gaben die Devise aus, dass auch 1989 bisherige Wahlergebnisse „zu erreichen und zu bestätigen“ seien.

Es war es wie der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel. Wir kennen das Ergebnis: Letztlich siegte der kluge Igel, das waren 1989 die Bürger.

Zunächst hatte die SED alles fest im Griff. In Potsdam wies der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung die Räte der Kreise und Oberbürgermeister zur Wahlmanipulation an. Oberbürgermeister Seidel protestierte, kuschte aber schließlich. Der Erste SED-Kreissekretär von Potsdam, das war Heinz Vietze, will von den Diskussionen zur Wahlfälschung der höchsten Staatsfunktionäre in seinem Kreis nichts mitbekommen haben.

Was die Bürgerrechtler nicht wissen konnten: Die Fälschung begann schon vor der eigentlichen Wahl. Wähler, die am Wahltag verhindert waren, konnten in Sonderwahllokalen wählen. Hier stimmten besonders viele mit Nein. Unbemerkt von der Öffentlichkeit ließ die SED schon am Tag vor der eigentlichen Wahl diese Urnen öffnen und auszählen. Die SED bekam dadurch einen ersten Trend. Allein in den Sonderwahllokalen gab es mehr Neinstimmen, als später das offizielle Gesamtergebnis für ganz Potsdam auswies.

Nach der Sonderwahlauszählung sollte der Potsdamer Wahlleiter, Oberbürgermeister Seidel, dem Kreissekretariat der SED Bericht erstatten. Doch der Erste Kreissekretär von Potsdam, Heinz Vietze, will von der Wahlfälschung nichts mitbekommen haben.

Am Wahltag selbst, dem 7. Mai, schien es zunächst alles zu laufen wie geplant. Die Staatssicherheit in Potsdam ließ 4 Personen „durchgängig“ kontrollieren, hatte mit 23 „vorbeugende Aussprachen“ geführt und überall wachsame Mitarbeiter postiert.

Erwartet wurde ein Bekenntnis zur vorher von der Partei festgelegen Einheitsliste: Wahlkabine ignorieren, Wahlzettel falten und offen in die Urne werfen. „Zettel falten“, nicht „Wahl“, nannte das der Volksmund. Doch diesmal war die Stimmung kritischer, mehr Bürger suchten die Kabinen auf, strichen die Kandidaten durch. Ein Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit dem Decknamen „Albert“ registrierte 55 dieser Nein-Wähler allein im Wahlkreis 13 in Babelsberg. Solche Nichtwähler wurden vom MfS nach Möglichkeit mit Namen registriert. Dem MfS war in Potsdam schon am Wahltag klar, dass „nicht mehr“ mit 99 Prozent Wahlbeteiligung gerechnet werden kann.

In 28 von 91 Potsdamer Wahllokalen zählten Bürger mit. Detlef Kaminski, später Baustadtrat, konnte in einem Wahllokal rund 10 Prozent Nein-Stimmen feststellen. Als er später das offizielle Wahlergebnis hörte, „hat es mich fast umgehauen,“ erinnert er sich.

Die Potsdamer Stasi war mit IM auch bei der Gesamtauszählung der alternativen Wahlbeobachter dabei. Diese hatten 2192 Nein-Stimmen gezählt. Das offizielle Ergebnis lag bei 1599. „Ich hätte nicht gedacht, dass die sich das trauen“, erinnert sich der damalige Wahlkontrolleur Pfarrer Hans Schalinski.

Die politische Führung der Kommunalwahlen lag in Potsdam an diesem Tag laut einem Maßnahmenplan beim SED-Kreissekretariat. Heinz Vietze hatte 150 Genossen zur Wahlkontrolle unter sich. Sie berichteten über die Wahlbeteiligung. Auch die Stasi informierte die SED. Sie kannte die Zahl der Kabinenwähler, die ungefähr so hoch war wie die der Nein-Wähler. Der Erste Kreissekretär von Potsdam, Heinz Vietze, will dennoch von der Wahlfälschung nichts mitbekommen haben.

Oberbürgermeister Seidel frisierte mit seinen Mitarbeitern in der Nacht die Zahlen, damit sie mit dem Gesamtergebnis übereinstimmte, das von der SED-Bezirksleitung vorgegeben war. Das Rathaus wurde zur Fälscherwerkstatt. Stimmbezirk für Stimmbezirk wurden neue Zahlen in die Protokolle eingetragen, die Wahlvorstände mussten sie blind abzeichnen.

Verärgerte Bürger suchten in den Tagen danach den OB auf, stellten ihn zur Rede. Seidel hatte offenbar ein schlechtes Gewissen. Er überlegte, das Wahlergebnis zu korrigieren, aber die SED-Bezirksleitung verbot ihm dies. Auch das SED-Kreissekretariat unter Heinz Vietze sprach nach der Wahl in Anwesenheit des Leiters der Potsdamer MfS-Kreisdienststelle, Oberst Peter Puchert, den Wahlverantwortlichen, darunter Seidel und Nopens, „die Anerkennung für ihre erfolgreiche und initiativreiche Arbeit“ aus. Doch die Bürger ließen nicht locker. In Potsdam erstatteten 18 Anzeige – auch in der DDR war Wahlfälschung auf dem Papier ein Straftatbestand. Die Anzeigen wurden auch von der Potsdamer Kreisstaatsanwaltschaft, wie DDR-weit, abgeschmettert. Auch hierzu kam es später zu Verurteilungen wegen Rechtsbeugung.

Wahlbeobachtungen und Proteste wie in Potsdam gab es DDR-weit. Es war wie eine Generalprobe für den Herbst ’89. Wahlproteste in Berlin führten zur Großdemonstration fünf Monate später am 7. Oktober, in Leipzig eskalierten die Montagsdemonstrationen.

Schon vor der Vereinigung wurde die Staatsanwaltschaft tätig: Einige reumütige SED-Funktionäre sagten aus. In Potsdam zum Beispiel Harry Klapproth, der in der SED-Bezirksleitung den Wahlbetrug mit vorbereitet hatte. Den Widerstreit zwischen Moral und Parteiräson verkraftete Klapproth nicht, er schied durch Freitod aus dem Leben. In anderen Regionen wurden auch die politischen Hauptverantwortlichen im Bezirk strafrechtlich belangt, der Erste SED-Bezirkssekretär von Dresden, Hans Modrow, zum Beispiel. In Potsdam blieb alles an der zweiten Garnitur hängen. Außer den Verantwortlichen aus dem Rathaus wurde noch der zweite Sekretär der SED-Bezirksleitung, Ulrich Schlaak, verurteilt.

Heinz Vietze sagt allen, die es hören wollen oder nicht, er sei nicht „strafrechtlich verantwortlich“. Seine weitere Karriere wurde nicht wirklich beeinträchtigt. Nur die SED wurde abgewählt. Der Igel gewann letztlich doch. Auch in dieser Hinsicht waren die Wahlen ein Symbol für ’89.

Der Autor ist Historiker und Journalist und hat zwei Gutachten für die Enquete-Kommission des Landtags Brandenburg zur „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur“ verfasst.

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