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DICHTER Dran: Ein Totentanz

Seit Monaten sind alle verfügbaren kulturellen Kräfte mit Wurzeln im Osten in Sachen Mauerfall unterwegs. Auch ich.

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Seit Monaten sind alle verfügbaren kulturellen Kräfte mit Wurzeln im Osten in Sachen Mauerfall unterwegs. Auch ich. In Hattersheim spendet man uns Mitleid für die verlorenen Jahre, in Stuttgart gibt es Rotkäppchensekt, in Melbourne werden wir gefragt, ob wir in der DDR nur Russisch sprechen durften. Wir sind eine gespenstische Wanderbühne. Wir ziehen die Mauer hoch, um sie abtragen zu können und erneut hochzuziehen. Es spielt keine Rolle, dass ich den 9. November verschlief. Ich und der Mauerfall werfen die gleichen fossilen Schatten. Neulich hatte Timothy Garton Ash auf einer Veranstaltung erklärt, das Eigentliche am Ereignis von 89 sei die Befreiung der Ostdeutschen gewesen. Er hatte das nicht in Kairo oder Kuala Lumpur gesagt. Er saß mit dem Rücken zum Brandenburger Tor und sagte es wie jemand, der sich in einer grandiosen Entdeckung sonnt. Seitdem bin ich misstrauisch. Ich möchte nicht so enden wie er. Auf einer Halloweenparty erschien ich ohne mein Ossi- Kostüm. Trotzdem flog ich auf, als ich einem schottischen Übersetzer aus Versehen sagte, dass ich aus Potsdam komme. „Dort aufgewachsen?“ fragte der Schotte und legte den Totenkopf aus Keksteig weg, dem er gerade das Kinn abgebissen hatte. Ich war seine erste echte Potsdamerin. Aber er wollte von mir kein Ständchen über Mauerbröckchen. Er sah in mir einfach eine Teilhaberin an einem glücklichen Moment seines Lebens. Als er eine Woche vor dem Mauerfall mit einem Visum in Potsdam gewesen war, war er zwischen den Weinreben zum Schloss hochgestiegen. Ein strahlender Herbsttag. Vor dem Schloss stand ein Tenor und sang eine italienische Arie. Er erinnerte sich nicht an die Arie selbst, aber an die Schönheit der Stimme, die Ausgelassenheit der Gesten. Der Gesang und die fliegenden Blätter im Licht hatten sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Ausgerechnet in dieser Enklave anglo- amerikanischer Exilberliner in Pankow, dekoriert mit Schokoladenskeletten und künstlichen Spinnweben, war, wie mir schien, der 9. November am besten aufgehoben.

Unsere Autorin lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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