Projekt für den Kongo: „Eine Art afrikanischer Virus“
Das Potsdamer Ehepaar Julie Müller und Henning Bess sucht weitere Paten für ärmste Kinder im prämierten Schulprojekt „Petite flamme“ im Kongo
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Alles begann mit Rafael. Der kleine Junge ist der Grund dafür, dass der Kongo Henning Bess und seine Frau Julie Müller seit 2006 nicht mehr loslässt. Im Vorgarten ihres Bornstedter Hauses weht an einem hohen Mast die Fahne der Demokratischen Republik. Ein kleines Schild mit der Aufschrift „Petite flamme“ verweist neben dem Eingang auf das kongolesische Hilfsprojekt, dem das Ehepaar einen Großteil seiner Zeit widmet. Und in der Diele lachen schwarze Kinder aus einem großen Fotorahmen. Eine Art „afrikanischer Virus“ habe sie beide wohl erwischt, erzählt der pensionierte Bundeswehrsoldat: Entweder man liebe Afrika – oder nicht.
Im Wohnzimmer zeugen die Schiffe, die als Modell die Wand schmücken und die Sofakissen zieren, davon, wie es zu dieser Liebe kam: 2006 ging Henning Bess als leitender Marineoffizier mit der Eufor, einem europäischen Militärverband, der über die ersten demokratischen Wahlen wachen sollte, für sechs Monate in den Kongo. „Wir wollten uns dort sozial engagieren“, erzählt der 68-Jährige. Die deutsche Botschaft schickte ihn zu Dada Diambu, einer kongolesischen Lehrerin, die im Auftrag der katholischen Fokolarbewegung das Schulprojekt „Petite flamme“ leitet.
Vor wenigen Wochen wurde es mit dem Roland Berger Preis für Menschenwürde ausgezeichnet. Die deutsche Theologin Monika-Maria Wolff hat das Projekt vor 20 Jahren gegründet, als sie mit ihren Studenten, eher zufällig, den ärmsten Kindern in der Hauptstadt Kinshasa begegnete. „Dort erschlägt einen die Riesenmasse armer Menschen.“
„Von zwölf Millionen leben 80 Prozent in Armut“, erzählt Henning Bess. „Petite flamme“ packe das Problem an den Wurzeln an – bevor die Menschen aus dem Land fliehen. Mithilfe von Patenschaften, die jeweils 20 Euro im Monat kosten, besuchen derzeit rund 2400 Kinder in vier verschiedenen Städten die Schule. Die Fünf- bis 18-Jährigen bekommen einmal im Jahr eine Schuluniform und jeden Tag eine warme Mahlzeit. Den Mais-Soja-Brei, Bouille genannt, essen sie aus Bechern im Klassenraum. Das Geld reicht außerdem für die ärztliche Behandlung der mangelernährten Kinder. Im Kongo, dem zweitärmsten Land der Welt, bekommen ein Viertel der Kinder nur jeden zweiten Tag etwas zu essen.
Eins davon war Rafael. Als Flottillenadmiral Henning Bess mit seinen deutschen Soldaten eine Schule besuchte, wich ihm der Fünfjährige nicht von der Seite. „Er hat mich als Paten ausgesucht“, schmunzelt Bess. Rafael lebte mit seiner Oma Agnes, wechselnden Tanten, Geschwistern und Cousins in einer zehn Quadratmeter großen Baracke in einem Militärlager, der Eingang war mit einem bunten Tuch verhängt. Die verdreckte Schaumstoffmatratze und flache Kartons wurden nur nachts zum Schlafen reingeholt.
Während ihres Aufenthaltes übernahmen die Soldaten 46 Patenschaften. Damit das Engagement nach ihrem Abzug nicht im Sande verlief, schickte Henning Bess seiner Frau die Fotos von fünf Kindern samt Geburtsdatum und Familiensituation. Julie Müller sollte in Potsdam Paten finden. „Meinst du, die freuen sich alle und sagen: ,Darauf habe ich schon immer gewartet?’“, habe sie damals gezweifelt.
Doch die Kommunikationswirtin, die ursprünglich aus Hamburg kommt, packte der Ehrgeiz. Sie druckte einen Infoflyer: „Ich fühlte mich herausgefordert, mit den wenigen Informationen, die ich hatte, zum Erfolg zu kommen.“ Kurz danach hatten die Kinder ihre Paten. Julie Müller fuhr selbst für zwei Wochen nach Kinshasa – als einzige der Soldatenfrauen. „Sie war mutig“, bemerkt Bess. „Zunächst war das ein Kulturschock“, erinnert sich seine Frau, 57 Jahre alt, an die Reise.
Sechs Monate später war das Ehepaar auf eigene Kosten wieder vor Ort und brachte den Kindern Briefe und kleine Geschenke der Paten mit: ein Fußballtrikot, Sticker. Und zusätzliches Geld für die Mütter, um einen bunten Stoffballen oder auf dem Markt Lebensmittel zu kaufen. „Für 50 Euro können sie gut einkaufen. Das reicht für eine Woche und für Öl obendrein“, sagt Julie Müller. Die Frauen weinen angesichts solcher Geschenke.
Seit 2009 ist Henning Bess, der drei Kinder und sechs Enkel hat, pensioniert. Längst hat seine Frau ihren Beruf an den Nagel gehängt und die Suche nach Paten zum Fulltime-Job gemacht. Achtmal waren sie im Kongo, mal in Kinshasa, diesen Winter auch im Süden des Landes. Einige Zehntausend Fotos sind auf ihrem Computer gespeichert. Von Kiala etwa, sieben Jahre alt, die mithilfe eines Potsdamer Optikers die passende Brille bekommen hat. Und immer wieder von sich selbst, mit den Menschen, lachend.
Viermal nur konnten sie ihr Patenkind Rafael besuchen. Mit sieben bekam er eine seltene Form von Anämie. Zwei Jahre später folgte ein Schlaganfall, der Junge zog das Bein nach und musste wieder sprechen lernen. Sie brachten ihn auf einer Behindertenschule unter. Doch als er neun Jahre alt war, starb Rafael. „Das war für mich schwer auszuhalten“, sagt Julie Müller. Es sei ein Trost gewesen, dem Jungen in seinem kurzen Leben etwas Menschenwürde und Freude zu geben, tröstet ihr Mann.
Rund 400 kongolesische Kinder betreut Julie Müller derzeit von Potsdam aus. „Wir sind einfach Paten, die sich mehr engagieren“, beschreibt sie bescheiden ihre Funktion als Bindeglied zwischen dem Kongo und Deutschland. Sie sammeln die Informationen vor Ort – und geben sie hier in Potsdam weiter. „Weil wir die Organisation, die Kinder und viele Eltern kennen. Wenn wir nach Afrika kommen, sind wir ein Teil der Familie“, sagt Julie Müller. Gegenseitige Besuche der Kinder und der Paten seien dagegen weniger erwünscht. Hilfe zur Selbsthilfe lautet die Devise – damit die Menschen vor Ort eine Perspektive haben.
www.petite-flamme.de
Isabel Fannrich-Lautenschläger
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