Landeshauptstadt: Eine Babelsberger Instanz
Einst musste er Fledermäuse umsiedeln, jetzt will „Gleis 6“-Wirt Roy Kayser nur noch die Küche vergrößern: Die Kultkneipe am S-Bahnhof Babelsberg feiert ihren 20. Geburtstag
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Roy Kayser sitzt an einem Tisch, einen Kaffee vor sich, und hat die Geschichte seines Lokals „Gleis 6“ wie auf Wandzeitungen ausgebreitet. Da sind Fotos aufgeklebt, bunt vermischt mit Zeitungsartikeln, die er ausgeschnitten hat. Er ist der Chef von zwei Lokalen – das „Gleis 6“ in Babelsberg und das „Albers“ am Griebnitzsee – und beide befinden sich direkt an Potsdamer S-Bahnhöfen. Offensichtlich scheint er ein Faible für Bahnhofskneipen zu haben, für die Laufkundschaft, für hungrige oder durstige Reisende.
„20 Jahre“, sagt er. „Und immer noch dieselben Durchgeknallten.“ So lange ist es nun her, dass Kayser zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder die Babelsberger Kultkneipe „Gleis 6“ aus der Taufe hob. Vom heutigen Donnerstag an feiert er Geburtstag, bis zum Samstag geht die Party. „Wir wollen so feiern, wie wir angefangen haben: mit weitgehend unbekannten Bands aus Potsdam“, sagt er. Am Donnerstag spielt 21 Uhr die Band „Rudy“, am Freitag ist Kneipenbetrieb – und am Samstag der Höhepunkt: „Westbabelsberg“ und „Bis jetzt noch nicht“ spielen, es gibt Freibier, solange der Vorrat reicht.
Kayser ist ein Gastronom, keine Frage, jemand, der seinen Bizeps durch das Wuchten von Bierfässern vergößert hat. Er strahlt die Seelenruhe eines Gastwirts aus, der auch in einer Kneipenschlägerei den Überblick behalten würde. „So etwas haben wir aber nie gehabt“, sagt er. „Vielleicht musste mal einer nach Hause gebracht werden, der zu viel getrunken hatte, aber die wilden Jahre sind ohne Verletzte an uns vorbeigegangen. Nicht einmal, dass bei uns nach einem Fußballspiel das Inventar zerschlagen wurde.“ Im Gegenteil, die Babelsberger Kiezkneipe hat eher Liebe gestiftet. „Ich weiß von drei Paaren, die sich bei uns kennengelernt und geheiratet haben.“ Die meisten seien der Kneipe über die Jahre treu geblieben. „Viele unserer Gäste, die früher in der großen Freundestruppe bei uns waren, kommen heute noch – mit Familie und Kinderwagen.“
Die Gastfreundschaft wurde Kayser und seinem Bruder quasi in die Wiege gelegt, der Urgroßvater hatte schon in den 30er-Jahren zwei Hotels in Berlin, das habe die Familie gastronomisch geprägt. Und 1993 erfüllte sich der große Traum: Die frühere Babelsberger Bahnhofshalle war seit 1961 gesperrt, die Fenster waren zugemauert. Kayser und sein Bruder waren sofort begeistert von dem Bau, den die Bahn nicht mehr für den Betrieb brauchte.
„Als Erstes haben wir gemeinsam mit dem Nabu die Fledermäuse umgesiedelt.“ Die Vision einer Kneipe war da: „Man läuft durch den Raum und spinnt: Wo kann man sitzen? Was kommt wo rein?“ Die Theke ließen sie in Holland bauen. Monatelang habe man nur Schutt herausgefahren, erzählt Kayser. Irgendwann stand die Kneipe aber: Im März 1994 wurde die Eröffnung gefeiert. Und pünktlich zu Weihnachten wurde der nebenliegende Saal eröffnet, der zum ausgebrannten Eisenbahnerhotel gehörte, das damals schon eine Ruine war. Es gab einen Mietvertrag über zwei Jahre, danach war man geduldet. Da wurden dann wilde Partys gefeiert, es gab unzählige Konzerte, die Grünen haben damals sogar einen Parteitag in der Halle abgehalten: „Jürgen Trittin hat ein vegetarisches Baguette gegessen“, erinnert sich Kayser grinsend.
1998 wurde die Halle dann abgerissen. Überhaupt seien die 90er-Jahre anders als heute gewesen, es gab viele besetzte Häuser, eine lebendige Musikszene – dennoch trauere er der alten Zeit nicht hinterher. „Das ist eine normale Entwicklung. Potsdam ist wunderschön geworden, und man kann das Rad nicht zurückdrehen.“ Jetzt freue er sich eher darauf, dass der Babelsberger Park schöner wird und er auch etwas von den Touristen abbekommt, die sich noch selten nach Babelsberg verirren: „Dann haben wir das Kleinod und die Aufmerksamkeit.“
Quer durchs Dach des Lokals läuft die Bahntrasse der S-Bahn, das Gleis 6, das der Kneipe auch den Namen gab. Vier Gleise verlaufen über die Konstruktion, zwei Ferngleise und zwei S-Bahn-Gleise. Warum es ein Gleis 6 gibt, das weiß Kayser selbst nicht, das weiß nur die Bahn. Von der ist das Objekt auch bis heute gemietet: „Ich würde das Gebäude nicht kaufen“, sagt Kayser. Jeden Tag fahre da die S-Bahn drüber, das Gebäude ist aus unbeweglichem Stampfbeton errichtet worden. „Das ist eine alte Madame, die sehr viel Pflege braucht.“
Kayser springt auf, er hat etwas zu erledigen, in der Zwischenzeit klingelt sein Telefon auf dem Tisch, er sprintet wieder zurück, zuckt entschuldigend mit den Schultern: „1000 Baustellen!“ Er hat immer noch viel zu tun, auch wenn er vorher noch mehr gastronomische Projekte hatte, das B-West in Potsdam-West zum Beispiel. Jetzt hat er drei Kinder – und steht nur noch ab und zu am Tresen, am Dienstag zum Beispiel, bei Hertha gegen Bayern, sie haben Sky im Gleis 6, da war was los. „Heutzutage ist es ganz gut, Standorte zu erhalten, wir sind ja keine Filialkette. Ich habe auch eine Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern.“ Zunächst will er jedoch die Küche im „Gleis 6“ vergößern. In Potsdam sei die ganze gastronomische Bandbreite abgedeckt, aber vielleicht findet sich noch etwas außerhalb – ganz ausschließen kann Kayser es nicht, dass vielleicht noch eine Dependance entsteht. „Damals, 1998, kürte das Magazin ,Feinschmecker’ das ,Gleis 6’ zur beliebtesten Kneipe Potsdams“, erinnert sich Kayser. Dabei gab es seit jeher eher rustikale Küche, der Imbiss gegenüber, der jetzt eine Dönerbude ist, gehörte auch mal zum „Gleis 6“. Und das hat immer noch seine Gäste: „Ich merke auch, dass die die Nähe suchen. Und das macht mir einfach Spaß.“
Geburtstagsfeier im „Gleis 6“ am S-Bahnhof Babelsberg von Donnerstag bis Samstag mit Konzerten und Freibier
Oliver Dietrich
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