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Von Jan Kixmüller: Eine gewisse Distanz
In diesem Jahr stand der Dokumentarfilm auf dem Prüfstand des „Cineastischen Quintetts“ der Sehsüchte
Stand:
Kosslick kam natürlich wieder zu spät. Es war ganz sein Auftritt, die Diskussionsrunde des „Cineastischen Quintetts“ hatte sich bereits vorgestellt, da kam der Berlinale-Chef hereingeschneit, rote Kapuzenjacke unterm Jacket, etwas müde im Gesicht, um dann doch gleich wieder mit seinem schelmischen Augenzwinkern den versammelten Filmkritikern zu widersprechen. Nein, den „schwäbischen SM-Film“ habe er gar nicht gut gefunden. „Das war der größte Langweiler.“ Er selbst komme ja aus Schwaben, erzählte Dieter Kosslick. „In Süddeutschland ist anscheinend ein Großteil der Menschen mittlerweile sado-masochistisch veranlagt“, so Kosslick. In seinem Heimatdorf gebe es heute die größte deutsche Latexhosenfabrik. „In Baden-Württemberg tut man sich offensichtlich gerne weh.“
Womit Kosslick den zuvor vielfach gelobten Dokumentarfilm „Das Leben ist kurz“ von Johanna Bentz ad acta gelegt hatte, ohne auf Form und Inhalt weiter einzugehen. Den eher kritisch betrachteten Film „Playgirl“ von Anna Wahle hingegen fand er gar nicht so schlecht. Dieses „Horrorszenario“ einer jungen Deutsch-Türkin, die so gar keine Perspektive hat, habe ihm ein Fenster in eine unbekannte Welt eröffnet. „Die Regisseurin zeigt die ganze Hoffnungslosigkeit dieses jungen Mädchens, deren einziger Freund letztlich ihr ständig bimmelndes Handy ist“, sagte Kosslick.
Nein, das konnten die anderen anwesenden Filmkritiker und Filmemacher nicht nachvollziehen. Lothar Mikos von der HFF ging sogar so weit zu sagen, dass es einer der Filme sei, die man nicht brauche. Cosima Lange und Eva Maschke, selbst Regisseurinnen, waren einer Meinung, die Filmemacherin war dem Mädchen zu sehr auf die Pelle gerückt, habe versucht ihre Freundin zu werden. „Das ist immer falsch“, resümierte Prof. Kerstin Stutterheim von der HFF , die selbst Dokumetarfilme dreht. Eine gewisse Distanz zu den Figuren sei unabdingbar, wenn man ihnen nahe kommen will. Einzig der Filmemacher Jörg Buttgereit pflichtete Kosslick bei. Auch er fand „Playgirl“ gelungen: „Chaotisch wie das Leben“. Überhaupt seien die Dokumentarfilme, die das Quintett – mittlerweile zum Septett angewachsen – in diesem Jahr zu beurteilen hatte, wesentlich besser gewesen als in den vergangenen Jahren.
In „Das Leben ist kurz“ begleitet Johanna Bentz den 40-jährigen Marcus aus Schwaben zu seiner Geliebten Bine nach Hamburg. Er zieht sich gern mal den Latex-Anzug an und wickelt sich Stacheldraht um die Hüften. Um Bine „richtig abgehen“ zu lassen, peitsch er ihr das dralle Gesäß. Nichts wirklich ungewöhnliches eigentlich, würde Marcus nicht so unverfänglich von seiner Frau und den Kindern in Schwaben erzählen. Ob das zusammenpasse, fragt ihn die Regisseurin. Klar, das gehe schon, seine Frau habe sogar einen ähnlichen Mantel wie Bine. Der Kameramann erzählt später, dass Marcus die ganze Zeit nur Lügen erzählt und sich die Dinge schön geredet habe.
Auch was die junge Nazanin in „Playgirl“ so alles erzählt, mag man ihr kaum glauben. Das was sie wirklich belastet, die Probleme ihrer Eltern und einen Unfall mit Folgen streift sie nur kurz. Dann beschimpft sie wieder irgendwelche Kurzzeitbeziehungen am Handy: „Du bist doch nur ein Pisser, Du Hurensohn!“ Als sie in einer Apotheke eine Telefonnummer für einen eventuellen Praktikumsplatz bekommt, schmeißt sie den Zettel weg. „Mich will eh keiner.“
Am dritten Film „No You nor I“ schieden sich ebenfalls die Kritiker-Geister. Ein Sterbehospitz für Aids-Kranke in Thailand, in dem die Toten offensichtlich zur Abschreckung mumifiziert öffentlich ausgesetllt werden. Die Mumien gingen ja noch, doch als ein Patient stirbt weicht die Kamera nicht von dem toten Körper, auch nicht dann, wenn die Schwester ihm Watte in alle Körperöffnungen schiebt. „Hier wird die Distanz sehr viel stärker missachtet, die Kamera durchbricht 1000 Barrieren“ , so Buttgereit. Auch Kosslick hat das gestört, zumal die Frage, wer eigentlich dieser merkwürdige amerikanische Hospiz-Chef war, gar nicht beantwortet wurde.
Kosslick sinnierte dann noch darüber, wieso Menschen sich heute in Filmen und Internet so gerne selbst dar- und ausstellen. „Weil sonst nichts mehr los ist“, sagt er. Die Gesellschaft vermöge heute nicht mehr den Einzelnen zu integrieren, daher würden die Menschen sich zunehmend zu Medien-Objekten machen. Hinzu komme, dass die „Unmengen an Junk die wir heutzutage sehen und lesen müssen“, den Blick auf das Wesentliche, das Menschliche verstellen würden. „Das Vakuum das hier entsteht, füllt zunehmend der Dokumentarfilm“, resümierte der Berlinale-Chef. Und das sei doch erfreulich.
Im Anschluss schlich sich Kosslick noch in den nächsten Filmblock. Und hier bekam er dann zu sehen, wie man es richtig macht. Der bulgarische Dokumentarfilm „Goleshovo“ zeigt die letzten im gleichnamigen Dorf verbliebenen Alten. Weder die Kamera noch der Regisseur Ilian Metev kommt den Personen zu nahe. Und trotzdem wird man ganz dicht hineingezogen in dieses kleine Bergdorf, das so ganz herausgefallen scheint aus unsrer heutigen Welt. Und auch Kosslicks These von den schmerzverliebten Schwaben schien sich zu bewahrheiten. Der Animationsfilm „Breathe“ von der Filmakademie Baden-Württemberg (Patrick Schuler) war mit seinen kryptischen Bildern und bohrenden Sounds doch eher etwas für hartgesottene Cineasten.
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