Homepage: Eine Mitgift
In Potsdam sind Zeithistoriker der Frage nachgegangen, wie Charisma und Herrschaft zusammenhängen
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Als Willy Brandt 1970 im ehemaligen Warschauer Ghetto in die Knie ging, sprach manch einer von Charisma. Landläufig würde man Charisma wohl als besondere Ausstrahlungskraft bezeichnen, die nur wenige Menschen haben. Eine geheimnisvolle Kraft, die Menschen dazu befähigt andere mitzureißen. Charisma findet aber auch in der Soziologie und Geschichte seine Bedeutung, wenn es, frei nach Max Weber, als außeralltägliche Kraft oder Qualität einer politischen Führungspersönlichkeit in Beziehung zu deren Herrschaft gesetzt wird. Ursprünglich aus der Theologie stammend – im neuen Testament noch als die Gabe des Heiligen Geistes an die Christen – ist Charisma in den vergangenen Jahren zum häufig gebrauchten Begriff in der Geschichts- und Sozialwissenschaft geworden. Der Begriff der charismatischen Herrschaft beschreibt eine wechselseitige Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten.
Eine Tagung des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) mit den Universitäten Potsdam und Leipzig im Kutschstall hat nun versucht, die lange auf einzelne Führerpersönlichkeiten fixierte Diskussion aufzubrechen. Was gleich zu Anfang glückte, als Prof. Michael Wildt vom Hamburger Institut für Sozialforschung das allgemein akzeptierte Bild der auf Hitlers Charisma fußenden NS-Herrschaft hinterfragte. Stimme es denn, dass Hitler die maßgebliche Schlüsselfigur von Nazi-Deutschland war, dass die Politik des NS-Staates nur die Umsetzung seiner Weltanschauung war? Nach Wildts Auffassung eben nicht. Die Frage sei doch eher, wie es um die Anhänger eines Regimes bestellt sein muss, die auf die Forderungen eines charismatischen Führers eingehen. Wildt nennt als Beispiel die Euthanasie: Die Täter hätten nicht gewusst, wen sie töten sollen – das hätten sie von ganz normale Ärzte gesagt bekommen.
Wildts These: Es habe eine kollektive Überzeugung in den Eliten Deutschlands gegeben, dass die Biopolitik und die rassistische Vernichtungsideologie der Nazis richtig war. Dies habe weitgehend auch ohne charismatische Herrschaft funktioniert. Die Institutionen des NS-Staates hätten nicht nur Prämissen Hitlers umgesetzt, sondern vielmehr selbstständig Strukturen ausgebildet, um die Maschinerie des Massenmordes zu perfektionieren. „Der Volkscharakter des Nationalsozialismus wird weithin unterschätzt“, so der Historiker. Wildt schlägt vor, Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft zu drehen, vom Herrscher auf die Beherrschten, vom Führer auf das Volk. „Die Frage ist schließlich, wie es dazu kam, dass in der bürgerlichen Elite Deutschlands sich die Meinung durchgesetzt hatte, dass sozialpolitische Probleme durch Mord zu lösen sind“, gibt Wildt zu bedenken.
Die Frage ist berechtigt, wobei allerdings die eigentliche Frage nach der charismatischen Herrschaft etwas aus dem Blick geriet. Der renommierte NS-Experte Prof. Hans-Ulrich Wehler warf dann auch ein, dass die Autonomie von Institutionen, Eliten und Entscheidungsträgern doch eher relativ gewesen sei, schließlich habe man sich im Vorfeld auf die Radikalität Hitlers eingespielt. Wehler bezweifelte auch, dass eine Institution mit einer eigenmächtigen Anweisung, für einige Zeit auf Antisemitismus zu verzichten, durchgekommen wäre.
Zuvor hatte Rüdiger Graf (Humboldt Uni Berlin) in einem Exkurs zur Weimarer Republik auf die Bedeutung der Krise für charismatische Führer hingewiesen. „Politische und ökonomische Krisen verstärken die Bereitschaft auf einen charismatischen Führer zu hoffen“, so der Sozialwissenschaftler. Hitler habe geradezu auf Krisen gewartet, und deren Anzeichen in seine Reden überhöht. Von der Novemberrevolution bis zur drohenden Vernichtung des deutschen Volkes reichten Hitlers Angstszenarien. Dem habe er das Heilsversprechen einer lichten Zukunft entgegen gestellt. „Das war ein genau geplantes Muster“, so Graf. „Charismatiker brauchen Krisen.“
Eine Absage an das Charisma-Konzeptes erteilte dann Professor Brigitte Studer (Uni Bern) in Bezug auf den Stalinismus. Stalins Persönlichkeit habe nicht über die außeralltägliche Kraft eines Charismatikers verfügt. Er habe zwar Charme gehabt, sei aber doch nur ein Verwaltungsmensch und Bürokrat gewesen. Stalin habe sich langsam empor gearbeitet und seine Konkurrenten ausgeschaltet. Der Persönlichkeitskult, der dann um in betrieben wurde, sei zwar charismatisch aufgeladen gewesen. „Doch die symbolische Überhöhung seiner Person war Stalin selbst fremd.“ Als sein Sohn einmal zu ihm sagte, ich bin ein Stalin, soll er geantwortet haben: „Nein, das bin nicht einmal ich.“
Was bleibt also vom charismatischen Herrschaftsstil? Ein US-Präsident, der nach dem Anschlägen vom 11. September per Megafon zu den Feuerwehrleuten spricht und dabei schnelle Entscheidung, Improvisationstalent und Tatkräftigkeit demonstriert? Oder ein deutscher Ex-Kanzler Schröder, der spontan die Elbflut dazu nutzte, in der Wählergunst wieder emporzuklettern? Nein, Wehler rückt den Begriff von Max Weber noch einmal ins rechte Licht. Es ist der Prophet, der Kriegsheld, eine Messias-Gestalt, die in einer „alles sprengenden existenziellen Krise“ der Gesellschaft durch ihr außergewöhliches Handeln – in der Bibel sind es die Wunder – einen Ausweg verspricht.
Der Charismatiker erhalte „letztinstanzliche Entscheidungskompetenz“, die es ihm erlaube, die gesellschaftlichen Normen aufzuheben. Und je weiter er darin gehe, desto enger werde seine Beziehung zu seiner Gefolgschaft. Vor dem Hintergrund der Traumatisierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, dem Wunsch der Eliten nach einem zweiten Bismarck und Hitlers „kommunikativer Suggestionskraft“, die sogar Gegner in ihren Bann geschlagen haben soll, ist für Wehler klar, dass man es hier mit einem Charismatiker zu tun gehabt habe.
Am Ende bleibt Charisma aber etwas nicht Fassbares. Hans-Ulrich Wehler spricht von einem nicht erlernbaren Talent, einer „Mitgift“. Die aber nur zum Tragen komme, wenn sie auf fruchtbaren Boden falle. So fruchtbar etwa, wie der Boden nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in Deutschland war.
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