Landeshauptstadt: Eine rosarote Zukunft
Die 19-jährige Potsdamer Abiturientin Victoria Schiller wird am 18. September zum ersten Mal wählen
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Die 19-jährige Potsdamer Abiturientin Victoria Schiller wird am 18. September zum ersten Mal wählen Victoria Schiller wartet auf ihre Zukunft. Sie wirkt, als ob sie die Zeit am liebsten ankurbeln würde, damit sie noch schneller Gegenwart wird. Sie freut sich auf das, was kommt: Im Oktober wird die 19-Jährige in Regensburg ihr Studium beginnen: „Deutsch-Französische Studien“. 180 Schulabgänger aus der ganzen Republik haben sich um einen Platz in diesem Fach beworben, 30 hat die Universität Regensburg angenommen – nach Prüfung und Bewerbungsgespräch. Ihre strahlend blauen Augen versteckt Victoria hinter den rosa Gläsern ihrer Sonnenbrille, morgens vor dem „Daily Coffee“ in der Friedrich-Ebert-Straße. „Hier war ich so oft, in jeder Freistunde“, sagt sie und seufzt, als sei ihr kurz bewusst, dass dieser Ort zukünftig ein Teil ihrer Vergangenheit sein wird – jetzt nach dem Abitur. Sie hat mit Notendurchschnitt 1,1 bestanden. Eine junge Potsdamerin, der die Zukunft gehören könnte. Doch wie stellt sie sich die politische Zukunft Deutschlands vor? Wählen will Vicky, wie sie sich nennt, am 18. September auf jeden Fall. Die vorgezogenen Wahlen findet sie richtig: „Es wäre für die rot-grüne Koalition sicher schwierig gewesen, bis zum eigentlichen Termin weiterzumachen.“ Auch wen sie wählt, steht für sie schon fest. „Ich wähle, um die jetzige Regierung zu bestätigen.“ Deren Außenpolitik findet sie „sehr lobenswert“. Die Entscheidung, sich nicht in den Irak-Krieg einzumischen, sei richtig gewesen. Sobald Vicky über Politik redet, wird sie ernst, wählt ihre Worte gewissenhaft. Meist sind die Dinge „nicht erstrebenswert“, wie die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer, oder aber „lobenswert“, wie die Authentizität des Kanzlers: „Natürlich schafft es nicht gerade Vertrauen, wenn der Schröder Wahlversprechen nicht einlöst, aber in Interviews wirkt er ehrlich.“ Das ist ihr wichtig. Dass Angela Merkel nicht nur die erste Frau an der Staatsspitze wäre, sondern auch die erste Ostdeutsche, spielt für Vicky dagegen keine Rolle. „Es ist es mir egal, ob sie Frau oder Ossi ist. Ich finde Merkel nicht erstrebenswert – weder als Person, noch als Politikerin.“ Dass sie selbst im Osten Deutschlands aufgewachsen ist, wird Vickis Wahl im September nicht beeinflussen. „Ich denke, dafür bin ich zu jung. Ich habe ja nur fünf Jahre DDR mitbekommen.“ Als „Ossi“ nimmt sie sich darum nicht wahr. „Man sollte langsam auch aufhören, in diesen Ost-West-Kategorien zu denken.“ Für die 19-Jährige ist es die erste Bundestagswahl, aber nicht nur darum sei sie eine besondere: „Vielleicht bekommen wir einen krassen Wechsel.“ Deshalb werde dieses Mal die Wahlbeteiligung auch höher sein. Insgesamt empfindet die Abiturientin „das politische Interesse zurzeit stärker als sonst“. Das läge auch am Wahlkampf. Dass der nun begonnen hat, hat Vicky am Umgangston der Politiker gemerkt: „Der ist schärfer und unsachlicher geworden. Es geht doch nur noch um Beschuldigungen.“ Wenn Merkel und die CDU gewinnen, meint Vicky, „würde die neue Regierung ziemlich stark unter Druck stehen, weil sie so viele Versprechen gemacht hat.“ Mit dem CDU-Wahlprogramm könne sie selbst nichts anfangen. „Wenn für bestimmte Dinge Geld ausgegeben werden muss, muss man es woanders einsparen – nur die CDU will da sparen, wo ich’s nicht gut finde: im Sozialnetz.“ Das entspreche nicht ihren politischen Überzeugungen. Diese „gewisse Grundhaltung“ haben ihr die Eltern, beide Lehrer, mitgegeben. Aber auch im Freundeskreis sei Politik „immer ein Thema“. Zum Beispiel dass sich auch die Politik Gerhard Schröders ändern müsse: Die Hartz-IV-Reformen fallen Vicki da ein, „allein weil da am Anfang schon so viel Organisatorisches schief gelaufen ist.“ Und auch wenn sie „eigentlich Ländersache ist“ – in der Bildungspolitik müsse „viel gemacht werden“, findet die 19-Jährige. Das Brandenburger Zentralabitur sei schon ein Schritt in die richtige Richtung, aber „eigentlich brauchen wir ein deutschlandweites Abi“. Sie selbst habe sich, als sie sich an den Universitäten beworben hat, schon Gedanken gemacht, ob sie nun „mit dem Brandenburg-Abi schlechtere Chancen“ habe als vielleicht die bayrischen Mitbewerber. Leider stünden Brandenburgs Schulen im bundesweiten Vergleich ziemlich weit hinten. Darauf, dass sie es trotzdem an die Regensburger Uni geschafft hat, ist Vicky stolz. Und darauf, dass sie es zuvor so „gut gepackt“ hat, Freizeit und Schule zusammenzubringen: „Ich habe nichts vernachlässigt.“ Im vergangenen Jahr ist sie jeden Morgen um 6.15 Uhr aufgestanden, um mit dem alten Auto der Mutter von Neu-Falkenrehde bei Ketzin nach Potsdam zur Schule zu fahren. Nachmittags Klarinetten- und Klavierunterricht. Im Schulchor sang sie mit und in einer Gospelgruppe: Klingt brav, nach strebsamen Mauerblümchen, aber Vicki muss eine von den „Coolen“ der Schule gewesen sein: Sie raucht, hört elektronische Musik, guckt französische Filme. Durch ihre schwarz gefärbten Haare und die helle Haut sieht sie ein bisschen wie Schneewittchen aus. Ob sie mit ihrer Stimme am 18. September die eigene Zukunft mitgestalten kann? Sie weiß es nicht. Letzten Endes sei es ja nur eine Stimme, „aber die sollte man nutzen“. Und eigentlich ist sie ganz optimistisch, sagt sie. Schließlich habe ihr das Leben bisher viel gegeben: Abitur ist bestanden, ihr Traumstudium wartet auf sie. Was sie danach machen will, weiß sie noch nicht: Am liebsten „was Kulturelles oder Politisches oder als Journalistin arbeiten“. Kinder möchte sie später auch haben. Dass sie als Frau benachteiligt werden könnte, kann Vicky sich heute kaum vorstellen: „Bis jetzt habe ich so etwas noch nicht erlebt. Ich hoffe, so bleibt es.“ Nun wird sie den letzten Sommer mit ihren Freunden genießen. Denn danach gehen alle eigene Wege, viele ziehen für ein Jahr ins Ausland. Aus ihrem engsten Freundeskreis sind es vier, und auch sie wird gehen. Ihr Studium ist so angelegt, dass sie jedes zweite Jahr die Universität im französischen Clermont-Ferrand besuchen wird. Sie kann sich sogar vorstellen, später in Frankreich zu leben. Aber nicht, weil ihr Deutschland nicht gefällt – sie fühlt sich wohl hier. „Das liegt aber vor allem an Potsdam.“ Sie geht zum Feiern ins Waschhaus und in den Fabrikgarten oder im Neuen Garten spazieren – das ist ihr Lieblingsort. Wehmütig macht Victoria ihr Abschied trotzdem nicht. Dazu freut sie sich zu sehr auf die Zukunft.
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