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Homepage: Eine spröde Geliebte

Der Sprachwissenschaftler aus Prag, eine rührende Lovestory und das intensive Studium des Mittelhochdeutschen. Von Josef Drabek

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Josef Drabek, 1939 in Böhmen geboren, studierte von 1958 bis 1962 an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dem Vorläufer der heutigen Potsdamer Universität. Derzeit schreibt Drabek seine Erinnerungen „Von Böhmen nach Brandenburg. Wege zwischen Weltkrieg und Wende“, deren erster und zweiter Teil vorliegt. Der dritte Teil zu Brandenburg beginnt mit der Studienzeit. Auszüge daraus erscheinen in den PNN.

Auch in Germanistik bestand unser Stundenplan aus einem Nebeneinander verschiedenartigster Lehrveranstaltungen. So begann die Sprachwissenschaft mit Schulgrammatik, während das Fach als solches erst später gelehrt wurde. Dafür entfiel die Behandlung des Althochdeutschen, das Bestandteil der Oberschullehrerausbildung war bzw. gewesen wäre, weshalb ich das „Hildebrandslied“ nur aus literaturwissenschaftlicher Sicht kenne, zu der wir einen verballhornenden Schluss reimten: „Hildebrand und Hadubrand hatten einen Riesenbrand, krochen heim auf allen Vieren.“

Deshalb stand am Anfang der eigentlichen Sprachwissenschaft das Mittelhochdeutsche, das Dr. Wilhelm Schmidt lehrte. Der grau gekleidete und genau gescheitelte Mittvierziger stammte aus Böhmen, hatte an der Prager Karlsuniversität bei dem bedeutenden Germanisten Erich Gierach ältere deutsche Philologie studiert und promoviert. Nach Vertreibung und Tätigkeiten als Lehrer und Direktor kam er 1958 an die Pädagogische Hochschule Potsdam, wo er Dozent und für uns „der“ Sprachwissenschaftler wurde. Noch heute habe ich sein prägnantes Prager Deutsch im Ohr, mit rollendem R und glasklarem A. Derart phonetisch exakt hieß es: „Die Sprachwissenschaft ist eine spröde Geliebte und erschließt sich nur dem, der sich intensiv mit ihr beschäftigt.“

Das sollten wir bereits bei der Verserzählung des Epikers Hartmann von Aue „Der arme Heinrich“ merken. Das Werk wurde als erstes ausgewählt, weil es den Verfasser selbst zu Wort kommen lässt, relativ übersichtlich ist und eine geschlossene Geschichte erzählt: die Opferbereitschaft einer Meierstochter für den an „miselsucht“ (Aussatz) erkrankten Ritter, der dadurch geheilt wird und fortan wohlgefällig mit ihr lebt. Die rührende Lovestory gefiel den „Mädels“ besser als uns „Jungs“, die sich einen Spaß machten, Mitstudenten zu fragen, ob sie an „miselsucht“ litten.

Im zugehörigen Proseminar wurde Vers für Vers gelesen und übersetzt, interpretiert und analysiert. So arbeiteten wir uns gestützt auf Franz Sarans „Anleitung für Studierende“, die „Mittelhochdeutsche Grammatik“ von Hermann Paul und Matthias Lexers Taschenwörterbuch in und durch das Werk. Weil sich unser Dozent meinen tschechischen Namen als ersten gemerkt hatte, hieß es von Anfang an: „Herr Drabek, wie würden Sie das übersetzen?“ oder „Was meinen Sie zu der grammatischen Form?“ Dieses permanente Bereitsein-Müssen zwang mich zu intensiver Beschäftigung mit der „spröden Geliebten“, in deren Ergebnis ich den „Scharfrichter“ Mittelhochdeutsch gut meisterte. Nach der mittelhochdeutschen Pflicht gefielen wir uns in solcher Kür, sprachen diphthongiert und redeten Kommilitonen ritterlich-höfisch mit „edeler herre“ an.

Die „spröde Geliebte“ begleitete uns auch durch das Frühneuhochdeutsche, die Sprache Luthers, und beim weiteren Eindringen in die Geschichte der deutschen Nationalsprache, über die Dr. Max Pfütze dozierte. Als schwierig erwiesen sich Lautverschiebungen, Sprachgrenzen und Mundartgebiete. Diese bildeten ein buntes Gewirr auf einer sprachwissenschaftlichen Deutschlandkarte, über die der Dozent einen Lichtpunkt irren ließ, verbunden mit der keine Antwort erwartenden Frage: „Das System dürfte wohl klar sein, oder?“ Das war aber kaum der Fall und meine Kenntnis der drei Mundarten Böhmischdeutsch, Sächsisch und Anhaltinisch nur bedingt hilfreich.

Etwas auflockernd wirkten „Szenen einer Nachbarschaft“ zwischen „Sachsen“ und „Preußen“ (siehe PNN 17. Dezember 2014), bei denen Erstere frohlockten, weil das Obersächsische Grundlage der deutschen Nationalsprache geworden war. Letztlich wurde mir diese gesamte Problematik erst klar, als ich sie später im Rahmen der Lehrerweiterbildung lehren musste. Von da an konnte ich fast im Schlafe solche linguistischen Sachverhalte erklären: etwa warum es Gänsebraten heißt, obwohl normalerweise nur eine Gans gebraten wird.

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