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An der Universität Potsdam helfen Tutoren beim Studium mit Behinderung
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Für Kirsten Meyer ist die Welt ein nahezu klangloser Raum. Stimmen kann sie zwar vernehmen, versteht jedoch nicht das Gesagte. Wenn sie Musik hört, bleibt der Takt ihr verborgen. Seit ihrer Kindheit ist sie hochgradig gehörlos. Heute studiert die 26-Jährige an der Universität Potsdam Anglistik. Sie kennt die Schwierigkeiten mit einer Behinderung zu studieren. „Die Kommunikation zwischen mir und den Professoren ist sehr kompliziert“, sagt sie. Will sie verstehen, muss sie von den Lippen lesen. Spricht sie selbst, weiß sie nicht, ob sie die Worte richtig formt. Kürzlich ließ sie sich deshalb mit weiteren Studierenden, manche mit Handicap, wie sie selbst, für das Projekt „Studium und Behinderung“ als Tutorin ausbilden. Gemeinsam wollen sie behinderten Studierenden mit der Aufbereitung der Lernmaterialien helfen, sie an schwer begehbare Orte transportieren, aber auch über Unsicherheiten hinweghelfen.
Unsicher, wie sie mit Behinderten umgehen sollen, sind auch viele der angehenden Tutoren. „Ich weiß noch nicht einmal, ob man Behinderter sagen kann“, sagt eine Studentin. „Ich möchte mehr Einblick in das Leben dieser Studenten gewinnen“, sagt ein anderer.
Wie viele behinderte Studierende es in Potsdam gibt, ist nicht bekannt. Eine anonyme Statistik schätzt sie auf etwa zwei Prozent, hauptsächlich in wirtschaftlichen und juristischen Studiengängen. Für naturwissenschaftliche und philologische Fächer fehle ihnen häufig das Selbstbewusstsein, sagt Irma Bürger, die Behindertenbeauftragte an der Uni Potsdam und Leiterin dieses Projektes. Selbstbewusstsein, das Kirsten Meyer durchaus hat. Als kleines Mädchen habe man sie für dumm gehalten und wollte sie auf eine Sonderschule schicken. Erst als sie in einem Intelligenztest ein überdurchschnittliches Ergebnis erzielte, durfte sie die Grundschule besuchen. Im Gymnasium kam sie in die Klasse mit den verhaltensauffälligen Kindern.
Nun ist Kirsten Meyer die einzige hochgradig gehörlose Englischstudentin in Deutschland. Trotzdem wollte sie ein Professor einmal nicht an seiner Veranstaltung teilnehmen lassen. „Um mich zu beschützen“, sagt sie. Nachdem sie den Kurs mit der besten Arbeit abgeschlossen hatte, entschuldigte er sich bei ihr. Auf das Verständnis der Lehrkräfte sind die gehandicapten Studenten angewiesen. „Deshalb gehen wir als nächstes die Dozenten und Professoren an“, so Irma Bürger. Meist sei nicht Diskriminierung das Problem, sondern falsche Rücksichtnahme. „Behinderte möchten nicht mit Samthandschuhen angefasst werden“, sagt sie.
Mehr als die Hälfte dieser Studierenden fühle sich durch ihr Handicap nicht im Studium beeinträchtigt. Für die anderen ist ein so genannter Nachteilsausgleich in der Hochschulordnung festgelegt. Dieser garantiert, dass die Studienbedingungen ihren Möglichkeiten angepasst werden. So kann etwa ein blinder Student seine Prüfung an einem Computer ablegen, oder Klausuren einem Helfer diktieren.
Doch es handelt sich nicht nur um Rollstuhlfahrer, Blinde und Gehörlose, sondern auch um Menschen, deren Krankheit nicht so offensichtlich ist, wie etwa eine schwere Darmerkrankung. Oft werden ihre Schwierigkeiten übersehen. „Schon in den Erst-Semester-Tutorien sollen die Studierenden deshalb über die Behinderungen ihrer Kommilitonen aufgeklärt werden, damit sie später auch darauf eingehen können“, sagt Irma Bürger.
Hue-Tran Lieu etwa leidet an einer Muskelerkrankung. Treppen steigen fällt ihr schwer, manchmal muss sie Kommilitonen in höhere Stockwerke schicken und bitten Lehrmaterialien für sie abzuholen. Erst im kommenden Jahr wird das gesamte Universitätsgelände barrierefrei umgebaut sein. Noch spürt Hue-Tran Lieu die Blicke der anderen, wenn sie sich die Treppen hinauf müht. „Die wissen nicht, was mit mir nicht stimmt. Aber besser die Leute fragen unbefangen nach, anstatt mich anzustarren“, sagt sie. Eigentlich behindere die Gesellschaft diese Menschen, nicht ihre Krankheit, so Irma Bürger. Marion Schulz
Marion Schulz
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