Homepage: Eine widersprüchliche Vorgeschichte
Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller hat Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939 dokumentiert
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Dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vor 70 Jahren am 22. Juni 1941 den Decknamen „Barbarossa“ trug, gilt manchen im Rückblick auch als Menetekel. Schließlich war es doch „eine Erinnerung an jenen Kaiser des Hochmittelalters, der zu einem Kreuzzug aufbrach und schon beim Anmarsch ums Leben kam“, schreibt der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam in seinem Buch „Der Feind steht im Osten – Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939“.
Nicht viel besser erging es später Napoleon mit seiner „Grande Armee“, der wie Hitlers Wehrmacht auch zum Sommeranfang gegen Russland zog – und nach einem verlustreichen Feldzug in den Weiten Russlands schließlich auch geschlagen wieder davonziehen musste. Müller stellt auch das jahrelange Schwanken Hitlers über die Rolle Polens in seinem Machtkalkül einer deutschen Vorherrschaft in Europa heraus. Detailliert schildert er die politische und militärische Vorgeschichte des deutschen Überfalls. Dabei geht es auch um die Überlegungen Hitlers – bereits vor dem Überfall auf Polen 1939 – die Sowjetunion entweder gleich mit zu überfallen oder zunächst als „Verbündeten auf Zeit“ zu gewinnen, was dann auch mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 geschah. Hitler habe für diesen Pakt mit dem „bolschewistischen Erzfeind“ einen hohen Preis zahlen müssen, meint Müller. Russland hatte jetzt Zugriff auf das Baltikum und Ostpolen und damit ein wichtiges Vorfeld, aus dem Stalin größere strategische Vorteile ziehen konnte für einen späteren Waffengang als die Wehrmacht.
Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung sei ein deutscher Krieg gegen die Sowjetunion auch schon 1939 denkbar und möglich gewesen, meint der Autor. Ein „Barbarossa 1939“ hätte demzufolge wahrscheinlich auch zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zur Vernichtung Russlands geführt. Dass es sich nur um einen „Pakt auf Zeit“ handelte, war beiden Seiten klar (auch Stalin hatte Hitlers „Mein Kampf“ gelesen), auf alle Fälle Hitler, der in der Sowjetunion schon seit seinem Machtantritt den eigentlichen Feind sah und dafür sogar ursprünglich mit dem Gedanken einer Wiederannäherung an Polen spielte.
Propagandaminister Joseph Goebbels schrieb am ersten Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes in sein Tagebuch: „Einmal müssen wir doch mit Russland abrechnen.“ Hitlers geheime „Weisung Nr. 21“ an die Wehrmacht zum „Fall Barbarossa“ erfolgte am 18. Dezember des gleichen Jahres, nachdem sein Entschluss zum Überfall auf die Sowjetunion bereits in einer Besprechung am 31. Juli 1940 gefallen war. Die Rückeroberung der Russland im Hitler-Stalin-Pakt überlassenen Gebiete durch die Deutschen im Juni/Juli 1941 habe viel Mühe und Zeit gekostet, was vielleicht sogar über den Ausgang des „Unternehmens Barbarossa“ entschieden habe.
Auch wenn Stalin vom Zeitpunkt des deutschen Überfalls überrumpelt war, schien er im „Pokerspiel der Diktatoren“ doch bald das bessere Blatt in den Händen zu haben. Nicht zuletzt wegen grober Fehleinschätzungen der Wehrmachtsführung, aber auch wegen des Streits der Generäle mit Hitler über die eigentliche Stoßrichtung, wie Müller schildert. Die Generäle setzten auf eine schnelle Entscheidung durch einen Vorstoß bis Moskau, während Hitler vielmehr die Kornkammer Ukraine, die Erze des Donezgebietes und das Öl des Kaukasus als überlebenswichtige Nahrungs- und Rohstoffressourcen für seine manisch verfolgte Idee vom „Lebensraum im Osten“ favorisierte.
„Barbarossa“ zeugt nach Ansicht des Historikers „nicht nur vom moralischen, sondern auch vom professionellen Versagen einer vergangenen Militärelite“. Viele der verantwortlichen Militärs hätten nach Kriegsende ihre Mitschuld verschleiert oder auf andere geschoben. Wenig beachtet worden sei nach Müllers Ansicht bisher die Tatsache, dass die ersten militärischen Überlegungen und Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die UdSSR im Juni 1940 vom Oberkommando des Heeres angestellt worden seien – „ohne jegliche Vorgaben von Hitler“.
Hitlers „Weisung 21“ vom 18. Dezember 1940 ist auch in der erweiterten Neuausgabe des Fischer-Taschenbuchs „Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion - ,Unternehmen Barbarossa’ 1941“ nachzulesen: „Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“. Thesen über gleichzeitige Angriffsabsichten der Sowjetunion könnten nicht überzeugen, heißt es in dem Band. Stalin habe vielmehr einem damals vom Generalstab der Roten Armee vorgelegten militärischen Angriffsplan nicht zugestimmt. Wilfried Mommert
Wilfried Mommert
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