DICHTER Dran: Einer weint
Neulich war ich deprimiert. Vielleicht lag es an der Euro-Krise.
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Neulich war ich deprimiert. Vielleicht lag es an der Euro-Krise. Vielleicht an den Schlachtgesängen skandierender Männer in der arabischen Welt, bei denen in den Nachrichten so getan wird, als handele es sich um Demonstrationen des ganzen Volkes. Vielleicht lag es nur daran, dass eine Kritikerin mein Buch nicht mochte oder dass der Sommer zu Ende war. Alles Dinge, die ich nicht ändern konnte. An der Orangerie im Park Sanssouci saß ein Junge. Er hatte verweinte Augen. „Aber es ist doch mein Leben!“ rief er verzweifelt ins Handy, seine nackten Zehen steckten im Sand. Neben ihm auf der Bank stand eine halbleere Flasche Red Label. Ich hätte gern gewusst, ob das seine Mutter war am Handy, sein Lehrer oder seine Freundin. Vielleicht war auch niemand dran. Vielleicht ging es ihm gut. Vielleicht war er frisch verliebt und wollte nur vorbeugen. Er übte. Für den Fall, dass es ihm mal nicht mehr so gut ginge. So macht es auch eine meiner Bekannten. Sie hat sich in ihrem Bungalow am Stadtrand eine Kammer eingerichtet und mit Plastikcontainern ausgestattet. Für den Ernstfall. So lange es ihr gut geht, hortet sie kiloweise Reis, Linsen, Salz und flaschenweise billigen Schnaps. Falls sie ihn nicht vorher ausgetrunken hat, kann sie den Schnaps und das Salz tauschen, wenn es bald kein Geld mehr geben wird. Sie hat sich eine Gulaschkanone gekauft, damit sie Reis und Linsen bei Stromausfall auf dem Feuer erhitzen kann. Die neueste Errungenschaft ist ein Radio zum Aufziehen. Sie zieht das Gerät eine Minute auf und kann eine Stunde lang die Nachrichten hören. Falls es dann noch jemanden gibt, der die Nachrichten spricht. Falls es überhaupt noch Nachrichten gibt und nicht nur Ereignisse, die sich überschlagen. Genau einkreisen kann sie den Ernstfall nicht. Aber es gibt jede Menge neue Bücher darüber. Sie prophezeien: das Schlimmste geschieht zuerst in der Stadt. Ich kann also gleich im Park bleiben. Wenn es los geht, setze ich mich auf eine Bank unter den Göttern, öffne den Red Label und trinke ihn im Bewusstsein, dass es der letzte ist. Bei diesem Gedanken schmiss der Junge sein Handy auf den Boden und sprang auf. Ich wäre gern noch ein bisschen in seiner Nähe geblieben. Manchmal besänftigt es schon, anderen bei ihrem Weltschmerz zuzusehen.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, jüngst ist ihr neuer Roman „Sturz der Tage in die Nacht“ erschienen.
Antje Rávic Strubel
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