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Landeshauptstadt: Eingeholt von der Sendung mit der Maus

Nach 40 Jahren Schule geht Vera Paul in den Ruhestand – in Erinnerung bleiben Erlebnisse wie „Tryst“

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Selten wirkt Vera Paul so unsicher wie auf die Frage nach der Zukunft. Vor zwei Jahren hat sie sich entschieden, dass heute ihr letzter Tag an der Schule ist. Damals stand die Oberschule in der Burgstraße vor dem Aus und die Zukunft des gesamten Standortes war ungewiss. Eine Situation, in der die Schulleiterin den Altersteilzeitvertrag unterschrieb – inzwischen würde sie auch gerne weitermachen. Aber das geht nicht, eine Nachfolgerin ist vom Schulamt eingesetzt worden. Daher wird sie zum Schulanfang am 1. September nicht mehr da sein, während die Knirpse der kleinen Innenstadt-Grundschule dann wieder ein Jahr größer sind. Ihr Zeugnis hat Vera Paul schon bekommen, selbst der bekannte Tanz-Pädagoge Royston Maldoom sowie Bildungsminister Holger Rupprecht kamen zur Übergabe – nach 40 Jahren im Schuldienst. Gereist ist sie dabei viel.

Von der Ostseeküste bis zum Fichtelgebirge – die Abmessung der DDR war auch das Arbeitsgebiet von Vera Paul. In Wustrow auf dem Darß/Fischland geboren und später in Rostock zur Schule gegangen, kam sie 1964 für das Lehramtsstudium nach Potsdam. Der erste Arbeitsvertrag führte sie nach Gerwisch zwischen Burg und Magdeburg, es folgten ein Jahrzehnt in Dresden und wieder Potsdam. Ab 1981 hat Vera Paul am Zentralinstitut für Schulfernsehen in Potsdam gearbeitet. Sie gehörte zu dem Kreis von Pädagogen, der gemeinsam mit dem Fernsehen der DDR Sendekonzepte für den Schulunterricht entwickelt hat. Geschichte war ihr Gebiet. „Medienpädagogik war damals etwas ganz modernes“, sagt Vera Paul. Es seien zum Teil gute Sachen gewesen, die sie heute noch nutzen würde. Inzwischen aber haben die Sendung mit der Maus sowie Ernie und Bert das übernommen, was damals von Pädagogen auf den Weg gebracht und an der Forschungsschule des Fernsehens in der Burgstraße für das Bildungssystem der DDR getestet worden ist. Acht Jahre lang hat Vera Paul Fernsehen gemacht, hat zwischendurch promoviert, eine Scheidung hinter sich gebracht und zwei Kinder großgezogen. Doch nichts sei so überstürzt und unüberlegt gewesen wie die Bewerbung auf die Schulleiterstelle an der Rosa-Luxemburg- Schule. Und noch heute kann sie sich daran erinnern, was eine der ersten Fragen des damaligen Lehrerkollektivs gewesen ist: „Wie stehen sie zum Hort?“

Es war die Zeit, in der das DDR-Schulsystem nach westdeutschen Modell reformiert sowie Schule und Hort getrennt wurden. 18 Jahre später, also diesen September, werden an der Luxemburg-Grundschule Hort und Schule wieder eine Einheit. Ihre Meinung dazu hatte sich auch über die Jahre hinweg nicht geändert: Schule und Hort müssten eng zusammenarbeiten. Immer wieder hat sie sich in anderen Ländern über die jeweiligen Bildungssysteme informiert und erkannt, dass Deutschland eine „sehr konservative Schulstruktur hat“. Aber über Strukturen sei nie diskutiert worden, nur über deren Auswirkungen. Und die sind manchmal verheerend. „Es darf nicht passieren, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien bildungsfern aufwachsen und auch oft bleiben.“ Chancengleichheit für alle, ruft sie. Sie plädiert für ein weniger gegliedertes Schulsystem mit Schulen von der 1. bis zur 9. Klasse und dem Gymnasialgang im Anschluss. Heute heißt es finnisches Modell – zwischen Rostock und Suhl ist es das DDR-Modell.

Viele Gewittergüsse hat Vera Paul im Laufe der vergangenen 18 Jahre erlebt. Ohnmächtig musste sie mit ansehen, wie ihr wegen geringer Geburtenraten erst die Primarstufe geschlossen worden ist und später, vor einem Jahr, die Sekundarstufe. „Das war eine meiner größten Niederlagen“, sagt sie selbst. Doch Vera Paul hat angepackt, gemeinsam mit Eltern, Lehrern und Partnern wie der Flick-Stiftung einen Neuanfang geschafft und eine Grundschule aufgebaut, die mit Reformpädagogik arbeitet und sich an Modellen von erfolgreichen Privatschulen orientiert. Ihr Motto: Was Private können muss die staatliche Schule auch leisten.

Wenn sie sich daran erinnert, was eines der schönsten Momente in ihrer Laufbahn als Schulleiterin war, dann fällt ihr das Tanzprojekt mit Royston Maldoom ein. Der Pädagoge, der gemeinsam mit hunderten Berliner Jugendlichen und den Philharmonikern um Sir Simon Rattle „Rhythm is it“ zum Kinoerfolg führte, hat vielen Schülern und Lehrern der Luxemburg-Schule Hoffnung eingetanzt. Drei Wochen lang probten Schüler, die in der Stadt als schwierig galten, und führten das Stück „Tryst“ im Hans Otto Theater auf. Alle Vorstellungen waren ausverkauft. Ein Gänsehaut-Projekt für Vera Paul, die immer einen Wunsch hatte: Sich einmal länger und intensiver mit Royston Maldom unterhalten zu können.

Dafür bekam sie zum Abschied neben einer Einsplus für ihre Tätigkeit von Schulrat Olaf Schönicke, einer Bank für den Garten und einem Pflaumenbaum einen Gutschein für einen Englisch-Intensivkurs. Und auch wenn sie in ihrer Karriere oft das letzte Wort hatte, so waren es diesmal die Grundschulkinder, die sich bei ihr mit Briefen bedankten. Und dem Abschlusssatz: „Frau Doktor Paul, wir wünschen Ihnen noch ein schönes Leben.“ jab

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