
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Elementare Dinge
Nikolaigemeinde initiiert erstmals die Aktion „Gedeckter Tisch“: Am ersten Tag herrschte Andrang
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Innenstadt - Als sie das letzte Mal beim Friseur war, sagt die Frau, habe sie 40 bezahlt. Nein, nicht Euro, D-Mark. An diesem Freitag kostet sie das Waschen, Schneiden und Föhnen, inklusive Kopfmassage, nichts. Vor dem zum Salon umfunktionierten Waschraum im Untergeschoss der Nikolaikirche, wo Friseurmeisterin Manuela Epperlein und Geselle Tim Schultz vom „Barbier im Krongut“ unentgeltlich arbeiten, formiert sich schnell eine Warteschlange. „Wird doch alles teurer“, sagen viele, die sich so einen Service wegen Arbeitslosigkeit oder Altersarmut sonst nicht leisten können.
Die Idee der Nikolaigemeinde, das gemeinsame Essen am „Gedeckten Tisch“ mit weiteren Angeboten wie Friseur, Kleiderkammer oder ärztlicher Beratung zu verbinden, finden die meisten Gäste großartig. Schon vormittags herrscht reger Andrang, der sich allerdings in den weitläufigen Räumlichkeiten der Kirche angenehm verläuft. Was zuerst beeindruckt, ist die liebevolle Rundumgestaltung: „Es sieht wunderschön aus“, sagen spontan zwei Besucher, die sich eben an der festlich gedeckten Tafel kennengelernt haben. Somit wäre dem zweiten Anspruch der Veranstalter gedient: Das Miteinander sei mindestens genau so wichtig wie das Essen, die Kirche solle zum Ort der Begegnung werden, wünscht sich Joachim Uhlig, Geschäftsführer der Gemeinde. Auch aus dem Grund ist Jürgen K., der seit acht Jahren wegen Mietschulden im Obdachlosenheim lebt, mit 15 weiteren Bewohnern der Einladung in die Kirche gefolgt. „Ich bin gebürtiger Potsdamer und war hier noch nie drin“, stellt er etwas verwundert fest und staunt über das „schöne Gebäude“. Vielleicht werde er noch auf die Aussichtsplattform steigen, sagt der gelernte Dachdecker.
Viele Besucher erfuhren von der Aktion aus der Zeitung, den Mitarbeitern der Potsdamer Tafel oder von Nachbarn. Ein 60-Jähriger, der sich mit einem Minijob als Zusteller über Wasser hält, hat seinen gleich mitgebracht. „Wir sind schön am Wasser entlang hierher gelaufen, aus Zentrum Ost. Man muss doch mal raus.“ Eben hat er Mittag gegessen, und der eine Euro für die Portion „ist ganz okay“.
Doreen Klug von den Maltesern ist Ansprechpartnerin für medizinische Fragen. Manche derjenigen, die zu ihr kommen, waren seit Jahren nicht mehr beim Arzt. Oder wollen einfach nur mal reden. Das kann man hier – trotz oder gerade weil plötzlich leiser Jazz von den „Kitchen Grooves“ die Kirche erfüllt. 30 Kilogramm Kaffee, schätzt Thomas Prange, Chef des Mövenpick-Restaurants „Zur historischen Mühle“, wird er an den drei Tagen verbrauchen. Dazu gibt es reichlich Kuchen, ein kleines Schlaraffenland, das manchem Gast offensichtlich fast unwirklich erscheint. Beim Rausgehen steckt sich ein Mann noch reichlich Obst in die weiten Manteltaschen, mit einem Blick, der einiges erzählen könnte von der Not nach elementaren Dingen.
Nicht jedem sieht man diese an, ein gar nicht so bedürftig scheinender junger Mann probiert in der Kleiderkammer einen Wintermantel, plötzlich flankiert von zwei Frauen, die ihm vorschlagen, die Ärmel zu verlängern. „Aber er steht ihnen wirklich!“, machen sie Komplimente. Und so ist es bestenfalls ein Verschmelzen von Geben und Nehmen, das diesen Tag für viele zu einem besonderen werden lässt.Steffi Pyanoe
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