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Landeshauptstadt: Elf Monate in der Zelle

Stasi-Untersuchungsgefängnis war bis Mitternacht geöffnet / Lesung von Ex-Häftling Alexander Richter

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Stasi-Untersuchungsgefängnis war bis Mitternacht geöffnet / Lesung von Ex-Häftling Alexander Richter Innenstadt – Die Fotozelle mit der Drehscheibe und dem Stuhl, auf dem die Stasi Alexander Richter vor 23 Jahren fotografierte, gibt es noch. Sie ist Teil der Gedenkstätte in der Lindenstraße 54. Sonntagabend las Richter, Jahrgang 1949, aus seinem vor 13 Jahren veröffentlichten Buch „Das Lindenhotel“. Elf Monate saß er hier in Untersuchungshaft. Sein Vergehen laut DDR-Strafgesetzbuch: Staatsfeindliche Hetze. Bis Mitternacht waren die Tore des ehemaligen Stasi-Gefängnisses weit offen. Wer wollte, konnte sich zu nächtlicher Stunde in die Zeit vor 16 Jahren versetzen, als das Untersuchungsgefängnis als Unterdrückungsinstrument funktionierte, konnte die lange Treppe hinaufsteigen in den Zellentakt oder absteigen in den Keller, wo die schweren Zellentüren aus der Zeit, als der sowjetische Geheimdienst hier das Sagen hatte, aufbewahrt werden. Eine schauerliche Atmosphäre: die unheimlichen Zellenlöcher, das primitive Inventar, die Essenausgabe und die im Flur angebrachten Klosettspülungen. Nur wenige Besucher trauten sich nach 22 Uhr in den Knast. Wer hineinging, war zwar nicht gefangen, aber verlassen und einsam. Gänsehaut. Gelegenheit zum Besinnen und Nachdenken. Die Fördergemeinschaft Lindenstraße 54 hatte dieses Angebot als Beitrag zum 15. Jahrestag der Deutschen Einheit gemacht. Viel zu wenige Besucher machten davon Gebrauch. Auch von der Lesung Alexander Richters. Mit leiser Stimme und ohne große Betonung las dieser aus seinem Buch: über seine Einquartierung ins „Lindenhotel“, über die Verhöre und Schikanen, über das Abgeschnittensein von der Außenwelt und über das Urteil des Bezirksgerichtes Potsdam: „Der Angeklagte wird wegen staatsfeindlicher Hetze (Verbrechen gem. § 106 Abs. 1 Ziff. 2 und 3 StGB sowie gem. § 106 Abs. 1 Ziff. 1 StGB in der Fassung von 1977) zu einer Freiheitsstrafe von 6 – sechs – Jahren verurteilt.“ Nach den U-Haft-Monaten in Potsdam verbüßte er drei Jahre davon im Zuchthaus Brandenburg. Dann kaufte ihn die Bundesrepublik frei. Manfred Kruczek, der Richter vorstellte, saß in den achtziger Jahren mit diesem beruflich in einem Boot. Beide waren Revisoren beim Rat des Bezirkes Potsdam. Zu ihrem „täglich Brot“ gehörte die Aufdeckung von Missständen, von Amtsmissbrauch und Korruption. Richter, der laut Kruczek die Fähigkeit zum Schreiben und den Drang zur Wahrheit hatte, wollte ein Buch herausbringen über diese Zustände, sah jedoch keine Chance zur Veröffentlichung in der DDR. Er schickte die Manuskriptseiten einer Freundin in der Bundesrepublik. Die DDR-Staatssicherheit fing die Briefe ab. Später heißt es in der Urteilsbegründung unter anderem: „In grober Weise greift der Angeklagte in seiner Schrift auch die Tätigkeit der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an. Am Beispiel eines Majors des MfS legt er dar, dass sich die Offiziere an beschlagnahmten Erzeugnissen westlicher Herkunft bereichern würden. Das MfS unterdrücke ferner die freie Meinungsäußerung der Bürger der DDR und bespitzele sie.“ Angesichts der in Mode kommenden „DDR-Nostalgie“ appelliert Manfred Kruczek an die Lehrer, ihre Schüler mit Zeitzeugen wie Alexander Richter zusammenzubringen, um die jungen Menschen über die Wahrheit des Unterdrückungssystems aufzuklären. Hierfür sei die Fördergemeinschaft Lindenstraße 54 Ansprechpartner. Günter Schenke

Günter Schenke

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