Von Erhart Hohenstein: Entschlossene Freude
Ein Augenzeugenbericht zur Demonstration am 4. November 1989 auf dem Luisenplatz
Stand:
Am 4. November 1989 erlebte Potsdam die größte Demonstration seiner Geschichte. Sie war vom Neuen Forum einberufen worden. Als ich gegen 14 Uhr den Platz der Nationen (heute Luisenplatz) erreichte, standen wohl an die 20 000 Menschen dicht gedrängt auf der Platzfläche. Sie machten ihren Forderungen in Sprechchören Luft. Angesichts der 1300 Potsdamer, die in jenem Jahr bereits ihre Heimatstadt über Ungarn und die Tschechei gen Westen verlassen hatten, war „Wir bleiben hier – verändern wollen wir“ zu hören. Weiter ging es mit „Wir sind das Volk“ bis zum anarchischen „Keine Macht für niemand“. Am häufigsten waren aber die Rufe „Stasi raus“ und „Stasi in die Produktion“.
Auf Plakaten wurde gefordert, die „alten Pferde“ abzulösen, die „den Karren nicht mehr aus dem Dreck ziehen“ konnten. „Dialog statt Gummiknüppel“ hieß es und „Keine Verfolgung politisch Engagierter“. Vielfältig mitgeführte und zum Teil provokatorisch von Kindern getragene Losungen und heftige Sprechchöre konzentrierten sich vorrangig auf die „Diffamierung des MfS“, heißt es im Lagebericht der Stasi-Bezirksverwaltung vom 5. November 1989.
Von einem Wohnungsbalkon am Platz der Nationen, den die Familie Stappenbeck zur Verfügung gestellt hatte, sprachen die Pastorin Annette Flade, der Gärtner Olaf Grabner, Sohn der Schriftstellerin Sigrid Grabner, und schließlich als Sprecher des Neuen Forums der Physiker Reinhard Meinel zu der Menschenmenge. Sie forderten eine Demokratisierung in der DDR, Meinungsfreiheit und freie Wahlen.
Nach den Reden vom Balkon setzten sich die Demonstranten Richtung Schopenhauer- und Breite Straße in Bewegung. Mit Sprechchören „Schließt Euch an!“ forderten sie die Unschlüssigen am Straßenrand erfolgreich zum Mitmachen an. So wälzte sich schließlich ein schier endlos erscheinender Zug Richtung Platz der Einheit. Dort sprach zum Abschluss der Kundgebung der Bürgerrechtler und Schriftsteller Hartmut Mechtel. Im Gegensatz zum 7. Oktober, wo die Demonstration in der Innenstadt gewaltsam aufgelöst worden war, „war diesmal die Stimmung schon von Anfang an gelöst“, schrieb später Sigrid Grabner, „keiner fürchtete mehr Polizei und Staatssicherheit. Eine Art entschlossener Freude hatte sich der Menschen bemächtigt“.
Nach der Kundgebung zogen an die 500 Potsdamer weiter zur Hegelallee, wo die Bezirksverwaltung der Stasi saß. Dort blieben alle Türen verschlossen. Nach 15 Minuten, so der Lagebericht, sei die Gruppe unter dem Ruf „Wir kommen wieder“ abgezogen.
In seinem am 2. November veröffentlichten Interview mit den „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“ hatte Meinel die Demonstration bereits angekündigt. Sie war am 19. Oktober im Babelsberger Pfarrhaus von zwölf führenden Mitgliedern des Neuen Forums beschlossen und durch Meinel und Pfarrer Martin Kwaschik bei der „freundlich, aber ratlos reagierenden“ Volkspolizei offiziell angemeldet worden. Am 3. November fand in der Erlöserkirche eine Versammlung des Neuen Forums mit etwa 2000 Anhängern statt.
Wie viele Menschen tags darauf an der Demonstration teilnahmen, darüber schwanken die Angaben. Überraschend nennen auch heute noch fast sämtliche Publikationen und Veröffentlichungen die von der Stasi herunter gerechnete Zahl von 20 000. Dagegen hatte sich Hartmut Mechtel schon 1990 gewehrt. „Nach welchen Gesichtspunkten die Staatssicherheit Teilnehmerzahlen fälschte, war nicht zu ermitteln“, schrieb er in einer Anmerkung zu dem Stasi-Lagebericht. „ zur ersten vom Neuen Forum organisierten Demonstration kamen 60 000 bis 100 000 Menschen.“
Es sollte die letzte große Kundgebung der Bürgerbewegung in Potsdam bleiben. Eine Woche später, am 11. November, wollten sich Teilnehmer auf der Freundschaftsinsel treffen und ihre Transparente mit den meist auf Bettlaken gemalten Losungen zur Schau stellen. Doch die Insel blieb leer. Zwei Tage zuvor war die Mauer gefallen, da hatten die Potsdamer dank der vornehmlich vom Neuen Forum erzwungenen Reisefreiheit andere Ziele.
Erhart Hohenstein
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