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Historikerkommission unter Potsdamer Leitung untersucht NS-Kontinuitäten im Bundesjustizministerium
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Eine große Herausforderung: Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker baut derzeit zusammen mit dem Marburger Rechtswissenschaftler Christoph Safferling eine unabhängige wissenschaftliche Kommission auf, die personelle und damit möglicherweise auch handlungspraktische NS-Kontinuitäten in den frühen Jahren des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) untersuchen soll. Im Besonderen wird sich die Kommission auf die 1950er und 1960er Jahre konzentrieren – jene Zeit, als die Rosenburg bei Bonn erster Dienstsitz des Ministeriums war. Die Initiative zu dieser Studie geht von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger persönlich aus.
Manfred Görtemaker, seit 1992 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, freut sich über die neue Herausforderung. Mit dem Marburger Kollegen Safferling kann er bereits auf erfolgreiche gemeinsame Projekte verweisen – so den Aufbau des Museums „Memorium Nürnberger Prozesse“, das am authentischen Ort, dem Justizpalast in Nürnberg, die dortigen Kriegsverbrecher-Prozesse dokumentiert. Mit der Untersuchung der frühen Akten des Bundesjustizministeriums setzt sich nun ein allgemeiner Trend fort, die Schnittstellen und Berührungsflächen zwischen den Ministerien des „Dritten Reiches“ und ihren Nachfolgeeinrichtungen in der Bundesrepublik systematisch zu erforschen.
Spektakulär und schockierend waren in diesem Kontext die Ergebnisse der „Unabhängigen Historikerkommission Auswärtiges Amt“, die 2005 vom damaligen Außenminister Joschka Fischer eingesetzt wurde. Pläne für eine ähnliche Studie existieren inzwischen beim Bundesinnenministerium, und seit 2010 wird auch die Frühgeschichte des Bundesnachrichtendienstes (BND) von einer unabhängigen Arbeitsgruppe untersucht.
Da bestimmte Aktensperrfristen in den Ministerien abgelaufen sind und somit neues Quellen- und Aktenmaterial zugänglich ist, kann das unbequeme Thema „NS-Kontinuitäten“ nun deutlich breiter und profunder angegangen werden als früher. Aber sind die wesentlichen Dinge nicht längst gesagt und beschrieben? „Das mag auf Einzelstudien und manche biographischen Forschungen zutreffen“, entgegnet Manfred Görtemaker. „Aber über das Justizministerium als solches sowie über personelle NS-Kontinuitäten in seinem Geschäftsbereich und mögliche Einflüsse auf das materielle Recht der Bundesrepublik Deutschland gibt es noch so gut wie nichts.“
Einige besonders problematische Fälle, in denen hochgradig belastete Juristen aus der NS-Zeit ihre Karriere in der Bundesrepublik ungebrochen fortsetzten, sind allerdings bereits teilweise erforscht. Dies gilt etwa für den SA-Sturmführer und späteren BMJ-Ministerialdirektor Heinrich Ebersberg sowie für Walter Roemer, der an der Verurteilung und Hinrichtung der Geschwister Scholl mitwirkte und später ebenfalls zum Ministerialdirektor im BMJ aufstieg. Ernst Kanter, während des Zweiten Weltkrieges Generalrichter in Dänemark, wurde später sogar Vorsitzender des Staatsschutzsenats beim Bundesgerichtshof. Besonders prominent ist bis heute der Fall von Hans Globke, einst Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und nach 1949 Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Konrad Adenauer. Fast mehr noch als einzelne zwielichtige Karrieren von NS-Juristen in der Bundesrepublik schockt indes eine Zahl aus dem Jahr 1962: Zu diesem Zeitpunkt war der Anteil von Richtern, die schon vor 1945 in der NS-Justiz tätig gewesen waren, beim Bundesgerichtshof auf 77 Prozent gestiegen.
Görtemakers Kommission wird die Forschung zu personellen NS-Kontinuitäten fortsetzen. Doch um einen Überblick zu erhalten, wie stark das Bundesjustizministerium und sein Geschäftsbereich hiervon tatsächlich erfasst waren und inwiefern solche Kontinuitäten die Gesetzgebung und die Rechtsprechung direkt oder indirekt beeinflussten, das wird nun in viel systematischerer Form am Aktenbestand des BMJ eruiert. Die Arbeitsgruppe wird dabei Schritt für Schritt die strukturellen Hierarchien des Hauses untersuchen. „Zunächst wird mit Hilfe von Organigrammen erfasst, wer im Untersuchungszeitraum im BMJ überhaupt tätig war“, erklärt Professor Görtemaker. „Anhand der Personalakten wird sich dann ein genaues Bild ergeben, welche Teile des Ministeriums betroffen waren, und in welcher Stärke.“ Dabei, so betont er, gebe es keine Vorverurteilungen: „Wir werden gründlich, aber ergebnisoffen recherchieren.“
Von großem Interesse sind für die beiden Professoren und ihr Team ebenso die damalige „Übernahmepraxis“ ins BMJ, die Frage der Amnestien und Verjährungen und schließlich auch die gängige Nachruf-Praxis für verstorbene Mitarbeiter. Darüber hinaus sollen solch brisante Themenkomplexe wie „BMJ und Holocaust“ und „BMJ und Alliierte Rechtspraxis“ auf die Agenda.
„Die Quellenlage ist eigentlich ausgezeichnet, und der Aktenbestand im Ministerium, der in der Mohrenstraße in Berlin lagert, scheint gut überschaubar“, bemerkt Manfred Görtemaker. Immerhin sei eine Unmenge an Akten durchzusehen – „tendenziell fast uferlos“. Trotzdem wollen Görtemaker und Safferling das Material auch selbst komplett in Augenschein nehmen. „Das ist wichtig, um die Ergebnisse später mit der nötigen Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit vertreten zu können“, so der Zeithistoriker vom Neuen Palais.
Der Zeitrahmen, um die Fülle an Fragen sorgfältig zu beantworten, ist gleichwohl eng bemessen: Bei einer Konferenz in Berlin wird am 26. April eine Bilanz des bisherigen Forschungsstandes gezogen. Danach werden Gesamtteam, Logistik und Arbeitsteilung endgültig festgelegt. Zweieinhalb Jahre intensive Archivarbeit und Aktenauswertung sollen dann die Basis für eine umfassende Publikation der Ergebnisse im Jahr 2015 liefern.
Olaf Glöckner
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