Landeshauptstadt: „Ernährung sollte man nicht dem Markt überlassen“ Michael Radke, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin, über gesunde Schulverpflegung
Herr Radke, wie sieht Ihrer Meinung nach gesunde Ernährung für Kinder aus?Das Problem, das wir in Deutschland haben, ist ja weniger durch Unterernährung als durch kalorische Überernährung gekennzeichnet.
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Herr Radke, wie sieht Ihrer Meinung nach gesunde Ernährung für Kinder aus?
Das Problem, das wir in Deutschland haben, ist ja weniger durch Unterernährung als durch kalorische Überernährung gekennzeichnet. Studien zeigen, dass Fettleibigkeit Kinder aus sozial schwachen Familien betrifft, was auch durch qualitativ unzureichende Ernährung zu erklären ist. Hinzu kommt aber auch eine gute Esskultur, mit gemeinsamen Mahlzeiten. Dafür muss die Familie und das familiäre Umfeld Vorbild sein.
Das fehlende gemeinsame Essen ist allerdings nicht nur ein Problem von sozial schwachen Familien, sondern eher mangelt es vielen an Zeit dafür.
Richtig, das ist eine Entwicklung, die beängstigend ist - wobei das Zeitproblem sicher ein relatives ist. Auch meine Eltern waren viel beschäftigt, aber die gemeinsamen Mahlzeiten waren wichtiger Bestandteil des Familienlebens - um miteinander zu kommunizieren, um Probleme zu besprechen.
Welche Auswirkungen von mangelnder Esskultur beobachten Sie als Kinderarzt?
Adipositas ist das eine. Aber immer mehr Kinder klagen über Bauchschmerzen, die auch durch Fehlernährung entstehen, etwa durch zu viel Fruchtzucker in der Nahrung. Fruchtsaftgetränke werden viel zu häufig als Durstlöscher angewandt, während Wasser hierfür in vielen Fällen kaum noch infrage kommt. Wir Kinderärzte sehen das aber sehr kritisch.
Wie sollte Ihrer Meinung nach eine gesunde Schulverpflegung aussehen?
Sie sollte sich an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und an regionalen Produkten orientieren. Ich bin der Meinung, dass man die Mahlzeiten vor Ort frisch herstellen sollte, in Schulen ab einer gewissen Größe müsste es Kantinen geben, die Automaten mit Snacks und kalorienreichen Getränken sollten entfernt werden.
Warum sollten es regionale Produkte sein?
Das verbinde ich mit gesunder und nachhaltiger Ernährung – auch aus ökologischer Sicht. Ich vermag nicht einzusehen, warum wir nicht Werderobst einsetzen und stattdessen Äpfel aus Neuseeland oder Australien importieren, mögen sie auch drei Cent billiger sein.
Der Preis soll also kein Kriterium sein.
Schulverpflegung sollte man nicht ausschließlich dem sogenannten freien Markt überlassen. Gesunde Ernährung und Profitstreben bergen einen Widerspruch in sich. Ich bin sehr kritisch gegenüber Angeboten von Großcatereren, die Kindern aufgewärmte Tiefkühlkost verabreichen, deren Herkunft unbekannt ist, oder Erdbeeren reichen, die um die halbe Welt tiefgefroren aus China kommen.
Woran hapert es denn, dies zu verändern?
Am politischen und gesellschaftlichen Willen. Es mag ja niemand einsehen, warum wir in einem reichen Land wie Deutschland es nicht hinkriegen, jedem Kind eine kostenlose warme Mahlzeit zukommen zu lassen. Andere Länder haben das ja vorgemacht.
An welches Land denken Sie da?
Es ist ja ungern gelesen und gehört, aber in der DDR gab es so etwas und in den skandinavischen Ländern ist man diesbezüglich weiter.
Geschmeckt hat das Essen in der DDR–Schulspeisung ja eher selten.
Das würde ich so nicht stehenlassen. Es war natürlich nicht immer die beste und ausgewogenste Ernährung – dem stand die Mangelwirtschaft entgegen. Es war aber überwiegend ein akzeptables und akzeptiertes Angebot. Man muss Kindern nicht täglich Kiwis und Mangos anbieten.
Sie wollen also Schulverpflegung nach sozialistischem Vorbild?
Das Vorbild Skandinavien hat mit Sozialismus wenig zu tun: Was spricht denn dagegen, in einer Bildungsrepublik wie Deutschland ein kostenloses Mittagessen für Kinder der 1. bis 7. Klasse anzubieten? Ich mag davon nicht abrücken. Kinder sind unsere Zukunft und die Ernährung der Kinder ist nicht ganz unerheblich für ihre Gesundheit und damit ihre gesunde Entwicklung und Leistungsfähigkeit.
Wie soll man das finanzieren?
Das Geld wäre ja da. Man müsste allerdings umverteilen. Ich denke an das Ehegattensplitting oder das Kindergeld. Als Chefarzt könnte ich auch zugunsten anderer ohne Kindergeld auskommen, ich hätte darauf verzichten können. Von dem Geld hätte man wahrscheinlich fünf andere Kinder mit einer warmen Schulmahlzeit ernähren können.
Sie haben gerade einen Verein zur Förderung der gesunden Kinderernährung gegründet. Mit welchem Ziel?
Der von uns gegründete Verein „Pro Kinderernährung Potsdam“ e.V. soll die derzeitige „moderne“ Art von Wissen über Nahrung und Ernährung kritisch hinterfragen. Wir wollen uns nicht wehrlos einem Trend der Fehlernährung ergeben, der offensichtlich ist. Als Kinderarzt sehe ich die Fehlernährung schon bei Säuglingen. Ernährung ist zwar nicht alles, aber ohne gute Ernährung ist alles nichts. Der Verein wird im Sommer richtig loslegen. Eine Ernährungswissenschaftlerin wird uns dabei unterstützen. Die finanziellen Grundlagen haben wir gelegt und Unterstützung von einem großen Lebensmittelkonzern erhalten.
Von welchem?
Von Nestlé, die ihren Gewinn in nicht unerheblichem Umfang mit zuckerhaltigen und damit de facto ungesunden Lebensmitteln machen. Der Konzern unterstützt uns mit 25 000 Euro im Jahr. Das Projekt ist auf mehrere Jahre angelegt.
Welche konkreten Angebote planen Sie mit Ihrem Verein?
Wir wollen Nahrung und Ernährung für Kinder und auch Eltern erlebbar machen, gemeinsam einkaufen gehen und den Unterschied zwischen Tiefkühlfertigkost und einem frischen, selbst zubereiten Salat anfassen, anfühlen und auch schmecken lassen. Dazu kommen Kurse und Übungen über gesunde Ernährung, Kochkurse für Kinder und auch Diskussionen in Schulklassen über gesunde und nachhaltige Ernährung. Eltern sollen miteinbezogen werden, aber auch unsere Mitarbeiter. Wir bekommen Unterstützung vom Klinikum, was ja nicht selbstverständlich ist und wofür ich dankbar bin. Die Potsdamer Bevölkerung rufe ich auf, unseren Verein und damit unsere Arbeit zu unterstützen.
Das Gespräch führte Grit Weirauch
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