Landeshauptstadt: Erst Hose, dann Schuhe
Ein Jahr Moltke-Haus, ein Jahr Hilfe für Autisten
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Babelsberg - Sie sind „wie kleine Kinder in großen Hüllen“, sagt Bianca Gebhardt, stellvertretende Leiterin des Moltke-Hauses in Babelsberg, der einzigen Wohnstätte für autistische Jugendliche und junge Erwachsene im Land Brandenburg. Die fünf jungen Männer und vier jungen Frauen, die im Moltke-Haus wohnen, leiden an ausgeprägten Störungen. Ihre Eltern schafften es nicht mehr, sie zu betreuen, in der Einrichtung des Oberlinhauses in der Steinstraße fanden sie ein neues Zuhause. Dort kümmern sich 15 Mitarbeiter rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr um die jungen Autisten.
Gestern feierten die Bewohner des Moltke-Hauses ihr einjähriges Bestehen mit einem Tag der offenen Tür. Wie Renate Frost, Bereichsleiterin LebensWelten des Oberlin-Vereins, und Bianca Gebhardt erläuterten, haben schwer autistische Kinder oft einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus, ebenso ist ihre Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit beeinträchtigt. Von den neun jungen Leuten im Moltke-Haus kann sich nur eine junge Frau per Sprache verständigen, die anderen schreien, bellen, knurren oder stampfen mit den Füßen, um ihren Willen zu bekunden. Früher, so Oberlin-Sprecherin Wiebke Zielinski, wurden diese Patienten häufig in der Psychiatrie weggesperrt. Doch das Verhältnis der Gesellschaft zu Behinderten habe sich gewandelt. Die Gründung des Moltke-Hauses sei ein Ausdruck dessen.
Ziel der Betreuung in dem modernen Doppelhaus ist es, lebenspraktische Hilfe zu geben, den jungen Leuten aber nicht alle Handhabungen des Alltages abzunehmen. So kann es für Autisten eine langwierige Lernaufgabe sein, sich einzuprägen, dass „erst die Hose, dann die Schuhe“ angezogen werden müssen, in dieser Reihenfolge, so Wiebke Zielinski: „Aber wenn es erst “mal sitzt, dann bombenfest.“ Bianca Gebhardt nennt es einen Riesenerfolg, wenn „jemand ohne Hilfe isst oder sich anzieht“. Das Moltke-Haus betreut nicht die leichten Autismus-Formen; die Bewohner dort werden lebenslange Unterstützung benötigen, so Renate Frost. Die Nachbarschaft zeige viel Verständnis für die Eigenheiten der jungen Leute – wenn die sich aber beim Bäcker hinterm Tresen Kuchen stiebitzen oder die Feuerwehr kommt, weil ein roter Alarmknopf zu interessant war, dann sei die Freude natürlich auch mal weniger groß.
Die 800 000 Euro, die die Errichtung der beiden Doppelhaus-Hälften kostete, finanzierte der Oberlinverein aus eigener Tasche vor. Die Refinanzierungs- und die Betreuungskosten werden durch den Kostensatz getragen, den das Sozialamt pro Hausbewohner bezahlt. Die Inneneinrichtung zu 150 000 Euro wurde durch Spenden finanziert. Da davon aber besonders am Anfang viel kaputt ging, seien Spenden weiter willkommen. Guido Berg
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