Landeshauptstadt: „Es geht nur, wenn man wirklich will“
Ein Potsdamer Schüler versuchte sein Glück bei der Aufnahmeprüfung an Berlins staatlicher Artistikschule
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An den Wänden des langen Flurs sind die Fotos der Absolventenjahrgänge ausgestellt. Nicht in Abendkleid und Jackett, sondern in Aktion: Menschliche Pyramiden, Frauen auf dem Drahtseil, Männer am Trapez. Die staatliche Artistikschule Berlin hat seit ihrer Gründung im Jahre 1956 bereits zahlreiche Artisten ausgebildet – an diesem Nachmittag sollen es noch einmal zehn mehr werden.16 Jungen und Mädchen haben sich auf dem Schulhof versammelt, um ihr artistisches Können unter Beweis zu stellen. Sie alle wollen in die neunte Klasse der Artistikschule aufgenommen werden. Einer von ihnen ist Ronny Lorenz. Der Potsdamer hat sein Diabolo mitgebracht und hofft, die Jury mit seinen Jonglagekünsten überzeugen zu können. In Sachen Akrobatik hat der Achtklässler schon Übung: Mit dem Potsdamer Kinder- und Jugendcircus Montelino probt er regelmäßig und tritt unter anderem beim Jugendvarieté im Volkspark auf. Zum Zirkus kam er nicht durch Zufall – seine Mutter Karin Lorenz war ebenfalls auf der Artistikschule und leitet jetzt den Montelino-Circus.
Die Zugangsvoraussetzungen für die zukünftigen Artisten sind gute Schulnoten und Talent in den verschiedenen Disziplinen, in denen sie später ausgebildet werden: Jonglieren, Äquilibristik, Trapez und Drahtseil. „Ich achte besonders auf die Beweglichkeit und die Figur“, erklärt Lehrer Udo Vogel. Mit seinem Bewertungsbogen auf den Knien sitzt er am Rand der Artistikhalle, in der Seile von oben und quer an der Decke hängen, Trapeze auf ihren Einsatz warten und Masten für ein Drahtseil aus dem Boden ragen. Als es losgeht, wird es mucksmäuschenstill, sogar die Eltern auf den Zuschauerbänken halten die Luft an. Dabei muten die Übungen recht einfach an. „Erik, mach mal vor“, ruft Herr Vogel, und Erik macht vor: Drei Rollen vorwärts, drei rückwärts, Räder schlagen, Radwende. Für Erik, der schon länger dabei ist, ist das kein Problem. Doch manche Kandidaten sehen schon bei der Rückwärtsrolle nicht mehr ganz so elegant aus. Auf den Bewertungsbögen häufen sich die Dreien und Vieren, sogar eine Fünf ist dabei. Die Schüler haben nicht nur ganz unterschiedliche Vorerfahrungen, sie kommen auch aus ganz Deutschland. Denn die Berliner Schule ist die einzige staatliche Artistikschule der Bundesrepublik, erklärt Ausbildungsleiterin Jutta Mücke. In der neunten Klasse beginnt neben dem „normalen“ Schulunterricht die artistische Grundausbildung, in ihrem zweiten Jahr fängt dann auch die Vorspezialisierung an, die Schüler orientieren sich und üben verstärkt in „ihrer“ Disziplin. Außerdem machen sie ihren Realschulabschluss. Am Ende der zwölften Klasse sind sie staatlich geprüfter Artist. Schüler, die nicht aus Berlin kommen, leben während der Ausbildung im Internat, die älteren Jahrgänge auch in Wohngemeinschaften.
So wie Pavel Komarov, der seit einem Jahr an der Schule ist. Dafür musste er aus Bayern wegziehen – eine Artistikschule gab es dort nicht. „Mein Spezialgebiet ist Bodenakrobatik“, erklärt Pavel. Und obwohl man dafür nicht in luftige Höhen hinaus muss, kann auch schon mal etwas schief gehen: „Zwei Mal habe ich mir jetzt schon die Schulter ausgekugelt“, berichtet er. Dann nur daneben sitzen sei „schon doof“, sagt er, genauso geht es ihm, wenn Mathe oder Englisch auf dem Stundenplan stehen: „Klar, am liebsten will man einfach nur in die Halle. Aber wir machen hier eben eine richtige Ausbildung.“ Doch davon sind längst nicht alle Eltern sofort überzeugt: Jutta Mücke musste schon lange Gespräche mit besorgten Müttern und Vätern führen. Eltern wollten wissen, „ob das denn auch ein anständiger Beruf sei“, berichtet sie. „Doch die meisten kann ich überzeugen. Die Schüler bekommen hier ja auch einen Schulabschluss“. Außerdem gibt es an der Artistikschule einen Betreuungsschlüssel, von dem Schüler und Eltern an „normalen“ Schulen nur träumen können: Die Klassen umfassen zehn bis zwölf junge Artisten, ab der elften Klasse gibt es Einzelunterricht in den verschiedenen Disziplinen. Der nächste Jahrgang, so Mücke, könne sogar parallel zur Berufsausbildung erstmals auch das Abitur machen. „Wenn die Schüler dann später lieber etwas anderes machen wollen, stehen ihnen alle Wege offen.“
Und wenn sie weiter Artist sein möchten? „Viele unserer Absolventen kommen in großen Zirkussen oder in Varietés unter. Ein Großteil arbeitet auch freiberuflich und wird für verschiedene Veranstaltungen gebucht“, erklärt Mücke. Die Kandidaten für den nächsten Jahrgang haben derweil ihr Können beim Hand- und Kopfstand, beim Jonglieren mit Bällen und beim Spagat zeigen müssen. Nervös warten sie nun im Foyer auf die sich beratende Jury. Auch Ronny muss noch warten, als die ersten bereits in den Jury-Raum gerufen werden. Doch ganz unspektakulär kommen sie wieder heraus, ja, sie wurden genommen, aber viel zu mäkeln hatten die Prüfer auch. Als Ronny dran ist, kommt er sehr still heraus. „Nicht genommen“, sagt er auf dem Hof. „Es lag wohl auch an meinem Zeugnis“, sagt er. „Da steht drin, dass ich nur dann arbeite, wenn ich Lust dazu habe. Das fanden die wohl nicht so gut.“ Auch, dass er sein Spezialgebiet – die Jonglage mit dem Diabolo – der Jury nicht zeigen konnte, findet er schade. Die sieben Mädchen und drei Jungen, die angenommen wurden, bestaunen derweil einen Mitschüler auf dem Schulhof, der auf einem Podest balanciert und seinen Körper in alle Richtungen verbiegt. Auf die Frage einer wartenden Mutter, wie man denn so beweglich werden könne, grinst er: „Wenn man schon älter ist, ist Yoga am besten.“
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