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ZUR PERSON: Es hat auch andere gegeben

„Ich war ein Sozialist und wurde als 18-Jähriger wie ein Staatsfeind behandelt.“ „Das sind Leute, die das Zeug hätten, bei Jugendlichen Popikonen zu sein.“ Kritik an der gegenwärtigen Gedenkpolitik: Lutz Boede über die Lindenstraße 54, Potsdamer Spanienkämpfer und die Bombennacht vom 14. April 1945

Stand:

Herr Boede, was haben Sie gegen die Lindenstraße 54 als Gedenkort für die Opfer totalitärer Regime?

Gar nichts. Wir fordern seit Jahren, dass es dort einen geeigneten Gedenkort gibt. Das ist jetzt nicht der Fall. Die Lindenstraße hat nicht nur die Vergangenheit als Stasi-Gefängnis, sondern auch als Verfolgungsort für Opfer des NS-Regimes. Dort tagte das Erbgesundheitsgericht, der Volksgerichtshof, aber auch die normale NS-Strafverfolgung fand dort statt.

Die Stele im Innenhof der Lindenstraße 54 heißt womöglich aus diesem Grund „Das Opfer“ und nicht „Das Stasi-Opfer“ oder „Das NS-Opfer“.

Das ist ja ein Teil des Problems, dass wir an Orten doppelter Verfolgung haben. Es gibt große Probleme, wenn man an einem Ort beider Opfergruppen gedenkt. Weil nach 1945 eben nicht nur Unschuldige gesessen haben. Natürlich auch. Es war eine Zeit, wo im Zweifel jemand sehr schnell verhaftet wurde. Aber man muss es aus Sicht der Roten Armee betrachten. Sie kam in ein Land, wo bis vor Kurzem die Bevölkerung weitgehend die NS-Politik mitgetragen hatte – und plötzlich war kein Nazi mehr da. Und sie fanden Befehle, sich einer Werwolf-Bewegung anzuschließen, einer Art „Partisanenkampf“ gegen die Besatzer. Das führt natürlich auch zu Überreaktionen. Aber überwiegend haben nach 1945 NS-Funktionäre und NS-Täter gesessen.

Aber Sie wissen sehr gut, dass sich der Stalin-Terror nicht gegen Werwölfe und Spione richtete Nehmen Sie das Beispiel der Einstein-Gymnasiasten, die nicht zum Russisch-Unterricht gingen und dafür zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.

Es gab Übereifer bei der Verfolgung. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach 1945 auch viele NS-Täter gab, die nun von der Plastik „Das Opfer“ pauschal beinhaltet sind. Die vor 1945 Verfolgten haben ein Problem damit, wenn ihrer gleichsam mit ihren Peinigern gedacht wird. Ich bin befreundet mit dem Wehrmachts-Deserteur Ludwig Baumann, der empört ist, wenn in Torgau, am Ort seiner Verfolgung, eine Gedenkstätte eingeweiht wird, in der auch NS-Richtern gedacht wird. In der Lindenstraße gibt es bis heute keine Ausstellung für die Zeit zwischen 1933 und 1945

Ist aber in Arbeit.

Ja, aber man kann schon die Methodik in Zweifel ziehen. Wenn man weiß, dass die NS-Opfer die ältesten Zeitzeugen sind, die noch leben, dann weiß ich nicht, warum man nicht mit diesem Ausstellungsteil begonnen hat. Die Stasiopfer – ich habe ja mal selbst in der Lindenstraße 54 eingesessen – erfreuen sich noch bester Gesundheit. Die hätten sogar noch in 20 Jahren befragt werden können. Die NS-Opfer sind weitgehend gestorben oder so krank, dass sie für die Forschung nicht mehr zur Verfügung stehen. Das finde ich sehr schade, schon aus Gründen der Beweissicherung. Zu sagen, da habe das Geld gefehlt, ist nicht akzeptabel.

Es ist aber verständlich, dass es nach 1990 die Stasi-Opfer waren, die das Interesse auf ihre Leidensgeschichte richteten.

Na klar. Für mich persönlich ist dieser Ort ja auch sehr wichtig. Ich habe dort mehrere Monate meines Lebens gegen meinen Willen verbracht. Aber ein Gedenken auf Kosten anderer Opfergruppen Das zerreißt mich auch selbst ein bisschen

Die relative Einseitigkeit nach 1990 wird auch daran liegen, dass vorher 40 Jahre lang der NS-Geschichte der Lindenstraße 54 gar nicht gedacht wurde.

Dass Werner Seelenbinder da mal einsaß, hat man noch gewusst. Aber ansonsten ist in der DDR-Zeit zu wenig über diese Epoche in der Lindenstraße 54 geforscht worden. Es gab das zentrale Mahnmal am Platz der Einheit, das war für die Gedenkpolitik wichtiger.

Die Lindenstraße hat als Gedenkstätte einen Vorteil: Es ist ein authentischer Ort.

Es ist ein authentischer Ort, aber dort würde etwa am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, wiederum nur der Opfer gedacht. Dabei ist der Tag sehr komplex, er beinhaltet auch Widerstand und Befreiung. Dafür ist der Platz der Einheit als zentraler Platz besser geeignet. Es gab übrigens auch zwei Veranstaltungen am 27. Januar 2011, mit denen wir im Gegensatz zu der in der Lindenstraße 54 sehr einverstanden waren. Die Veranstaltung der Potsdamer Antifa am Platz der Einheit und am sowjetischen Ehrenmal und die der CDU in der Babelsberger Spitzweggasse. Das hätte ich nicht für möglich gehalten – eine logische, akzeptable Veranstaltung am Ort der letzten Deportation.

Lutz Boede lobt die CDU.

Ja, warum denn nicht, sogar der Referent war akzeptabel, der Historiker Wolfgang Weißleder. Bei Symbolen kommt es auch auf Treffsicherheit an, da ist gut gemeint nicht genug.

Halten Sie es für möglich, dass NS-Täter nach 1945 auch Opfer werden konnten?

Natürlich. Sehen Sie die Waldheimer Prozesse gegen NS-Täter in der DDR. Da gab es nach 1990 pauschale Aufhebungen, weil die Verfahren sehr kurz waren, keine Fristen eingehalten wurden und die Angeklagten keinen Verteidiger hatten. Aber es saßen damals keineswegs nur Unschuldige. Da wäre Potsdam der erste Ort mit doppelter Verfolgung, wo das so wäre. Das ist eigentlich auszuschließen.

Kennen Sie Namen von NS-Tätern, die nach 1945 in der Lindenstraße einsaßen?

Nein, das ist ja das Problem, dass die Forschung noch nicht soweit ist. Darum hoffen wir, dass es dazu noch in diesem Jahr fundierte Erkenntnisse gibt. Deshalb bestehen wir ja auch auf Forschungsarbeit in diesem Bereich.

Sie wissen aber auch, dass es stalinistischen Terror gab, die Produktion von „Staatsfeinden“, um dem Sicherheitsapparat Legitimation zu verschaffen?

Aber ja. Wir wissen ja, wie Systeme ticken, die bürgerliche Grundrechte einschränken. Das ist alles unstrittig. Ich kenne das ja sogar noch aus der späten DDR, obwohl es 1983 schon anders ablief als in den Jahrzehnten davor. Ich meine, ich war ein Sozialist und wurde als 18-jähriger Bengel wie ein Staatsfeind behandelt. Das war schon absurd.

Sie wurden Opfer.

Aber wie gesagt, das hätte gar nicht so sein müssen. Es gab in der DDR eine Angst vor allem Abweichenden. Man muss allerdings in der Lindenstraße 54 zeitlich stark abstufen. Zeiten, wie sie Peter Seele beschreibt, der vom KGB in den Gefängnissen Lindenstraße und Leistikowstraße gefoltert wurde, habe ich da nicht mehr kennengelernt. Die schlechten hygienischen Bedingungen nach dem Krieg waren auch der damaligen Zeit geschuldet. Das muss man nicht alles als Mittel der Verfolgung sehen.

Was kommt Ihrer Meinung nach in der Potsdamer Gedenkkultur zu kurz?

Es gibt eine sehr augenfällige Vernachlässigung der antifaschistischen und der Arbeiterkultur. Seit Jahren ist keine Straße mehr aus dem Namenspool „antifaschistischer Widerstand“ benannt worden.

Das lag sicher auch an der DDR-Zeit.

Ja, aber es gab nach der Wende auch mal eine Diskussion um Georg Spiegel, ein Sozialdemokrat und NS-Widerständler, der die Vereinigung von SPD und KPD mitmachte. Deshalb war die SPD nicht bereit, in Potsdam nach ihm eine Straße zu benennen. Das ist schon verrückt. Es gab nach der Wende Umbenennungsexzesse, in denen die Namen von Personen der Arbeiterbewegung getilgt wurden.

Es gibt noch das Karl-Liebknecht-Stadion.

Ja, da traut sich niemand ran. Die schlimmste Zeit ist natürlich auch vorbei. Aber es gab auch mal diese kleine Karl-Liebknecht-Gedenkstätte in der Hegelallee – da ist alles entsorgt worden, in einer Respektlosigkeit, die schon verletzend ist. Oder sehen Sie die Herbert-Ritter-Tafel, die einfach mit einem Werbeschild der IHK zugenagelt wurde. So etwas macht man nicht, finde ich. Nehmen Sie das Spanienkämpfer-Denkmal, das rottet vor sich hin

Wo steht das?

Am Treffpunkt Freizeit. Es verrottet, aber die Stadt sagt, das interessiert uns nicht. Nun sammeln wir Spenden und hoffen, es am 9. Oktober zum 75. Jahrestag der Gründung der Interbrigaden neu einweihen zu können. Es gibt so viele Orte, wo man viel mehr machen kann, wo man auch gebrochene Bilder darstellen kann. Das muss ja nicht immer alles glattgebügelt sein.

Gab es Spanienkämpfer aus Potsdam?

Das sind Namen, die im Potsdamer Straßenbild bis zur Wende sehr präsent waren – Toni Stemmler oder Walter Junker. Leute, die Vorbilder sein könnten für heutige Jugendliche, Leute, die bereit waren, ihr Leben für ihre progressiven Überzeugungen zu geben. Da vergibt sich die Stadt etwas, wenn sie solche Leute vergisst. Das sind Leute, die das Zeug hätten, bei Jugendlichen Popikonen zu sein.

Glauben Sie, dass die Gedenkkultur auch ein Spielfeld politischer Interessen ist?

Es gibt immer das Bestreben der Eliten, Eliten zu ehren. In der bundesdeutschen Rechtsprechung war noch bis kurzem die Ansicht präsent, so ein Wehrmachts-Deserteur habe das gar nicht selbst entscheiden können, der konnte die Kriegs- und Rechtslage gar nicht überblicken. Das konnte der gar nicht so meinen, wenn er gesagt hat, es war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Dabei ist zuerst Franz Jägerstätter aus Österreich darauf gekommen. Der hat den Kriegsdienst verweigert mit der Begründung, es wäre ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Jägerstätter war ein Bauer; lange wurde er nicht rehabilitiert mit der Begründung, es wären nur gebildete Offiziere zur Bewertung politischer Umstände berechtigt. So war lange Zeit das Menschenbild, das ich nicht teile.

Wer vor Stalingrad im Dreck lag, konnte schon auf die Frage kommen: Was habe ich hier eigentlich zu suchen?

So ist es. Normale Soldaten konnten keinen Staatsstreich organisieren, sehr wohl aber ihre Mitwirkung am Krieg beenden.

Sie werfen der Stadt eine einseitige Gedenkpolitik vor. Aber wie ist es mit Ihnen selbst?

Jeder gedenkt lieber der Leute, die ihm näher stehen. Das machen wir auch. Aber wir füllen eine Lücke, die andere lassen. Der 20. Juli wird auch ohne uns nicht vergessen. An offizielle Gedenkpolitik muss man aber andere Erwartungen stellen. Ich gehe zu gewissen Veranstaltungen nicht, weil ich eine andere Schwerpunktsetzung habe. Das ist mein gutes Recht. Eine Stadt jedoch hat dafür zu sorgen, dass sie eine ausgewogene Gedenkpolitik hat. Beispiel: Der „Tag von Potsdam“ spielt keine Rolle im Gedenken der Stadt, aber alljährlich erwacht das kollektive Bewusstsein, wenn es um die Bombardierung von Potsdam geht. Dabei könnte man daran schön Ursache und Wirkung zeigen. Am 14. April wird man wieder so tun, als wären die Bomben aus heiterem Himmel gefallen. Da könnte man den Eindruck bekommen, die Alliierten hätten Deutschland überfallen.

Sie sehen die Stadt als Garant von Ausgewogenheit und Allseitigkeit. Ich denke, das müsste ein jeder in sich tragen.

Jeder Mensch setzt Schwerpunkte. Die Auswahl hat mit persönlichen Gesichtspunkten zu tun. Aber eine Stadt kann nicht nur der Männer des 20. Juli gedenken. Das ist eine schräge Geschichtsdarstellung. Es hat auch andere gegeben. Für die will ich mich engagieren.

Das Interview führte Guido Berg

Lutz Boede wurde 1965 in Plau am See geboren. In Teltow „quälte“ er sich durch eine Werkzeugmacherlehre. 1983/84 war Boede wegen des Verfassens kritischer Gedichte je vier Monate in der Lindenstraße 54 und der JVA Naumburg inhaftiert. Nach der Wende war er bis 1993 Landesgeschäftsführer der Grünen Partei in Brandenburg. Er trat „wegen des Rechtsrucks der Partei“ nach Vereinigung mit dem Bündnis 90 aus, gründete 1993 die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär und 1998 die Wählergruppe Die Andere mit. Zudem ist er im Landesvorstand der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Boede ist Geschäftsführer von Die Andere und bezieht eine Stasiopferrente. Interessen: Russische Literatur, Fußball.

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