
© Andreas Klaer
Soli-Konzert gegen Kündigung: „Es reicht mir nicht, Fliegen zu zählen“
Der schwer kranke Potsdamer Oliver Lenz soll aus seiner Wohnung ausziehen. Grund: Der Vermieter meldet Eigenbedarf an. Nun gibt es Unterstützung.
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Potsdam - Oliver Lenz ist keiner, der so leicht die Nerven verliert. Wenn er dienstags um Mitternacht von der Chorprobe aus Berlins Mitte nach Hause kommt, ist der Weg vom Parkplatz auf der Straße bis zu seiner Wohnung im vierten Stock wie immer kein Problem. Vor dem sanierten, üppig verzierten Gründerzeit-Bau in der Carl-von-Ossietzky-Straße bitten Schilder darum, den Eingangsbereich nicht zuzustellen. Und im Treppenhaus hilft Christian, seit einem knappen Jahr sein „persönlicher Assistent“, dem 49-Jährigen beim Wechsel vom Rollstuhl in die Treppenraupe. Die lässt den an Multipler Sklerose Erkrankten mit einem Sirren Stufe für Stufe nach oben gleiten. „Als ich das erste Mal damit nach oben gefahren bin, haben sich alle Türen geöffnet“, erzählt Lenz. Aber mittlerweile würden seine Nachbarn das Geräusch nicht mehr wahrnehmen: „Es gehört zum Alltag.“
Doch nun soll er hier ausziehen. Seit 1990 lebt der Ingenieur in der knapp 105 Quadratmeter großen Wohnung, seine vier Kinder, die zum Teil schon erwachsen sind, gehen hier ein und aus. 2011 kam die Wohnung bei einer Zwangsversteigerung unter den Hammer, ein Immobilienmakler legte dafür 150.000 Euro auf den Tisch – „ein Schnäppchen“, wie Lenz sagt. Der neue Eigentümer meldete Eigenbedarf an, verlor aber, als sein Mieter sich weigerte auszuziehen, die Klage vor dem Amtsgericht. Dieses erkannte Oliver Lenz, der zu 100 Prozent körperbehindert ist und die Pflegestufe drei besitzt, als „Härtefall“ an. Mittlerweile ist der Eigentümer, der angeblich mit seiner schwangeren Frau und einem Kind hier einziehen will, in Revision gegangen, das Landgericht muss über den Fall erneut entscheiden.
Kein Plan B
Oliver Lenz weiß, dass Eigenbedarf ein „sehr hohes Gut“ ist – auch wenn er an die Version seines Vermieters nicht glaubt. Verrückt machen will er sich jetzt aber nicht: „Die Probleme werden gelöst, wenn sie da sind“, lautet sein Credo. Er habe keinen Plan B: „Ich gehe davon aus, dass ich hier wohnen bleiben kann“, sagt er und lässt sich von Christian den Kopf Richtung Strohhalm hinunterdrücken. Wie solle das auch praktisch gehen, ihn der Wohnung zu verweisen? „Wenn der Zwangsvollstrecker kommt und mich dazu auffordert: Wie soll das passieren?“, fragt Lenz lachend. „Dann müsste schon jemand von der Feuerwehr kommen und mich runtertragen.“
Aus Protest gegen den drohenden Rausschmiss hat der Neuköllner Hans-Beimler-Chor, in dem Oliver Lenz seit 2005 singt, für den kommenden Samstag ein Solidaritätskonzert in der Potsdamer Erlöserkirche organisiert. „Wir wollen ein Zeichen setzen, damit die Situation nicht eintritt, dass Oliver seine Wohnung verlassen muss“, sagte der Dirigent des Chores, Johannes Gall. Dies könne für einen Schwerbehinderten, der sein ganzes Leben darauf eingerichtet habe, lebensgefährlich sein. „Ihm sollte der maximale Rest eines selbstbestimmten Lebens ermöglicht werden“, sagte der Leiter des Chors, der sich Arbeiterliedern verschrieben hat und als politisch links versteht. „Wir hoffen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit den Eigentümer einlenken lässt.“
Oliver Lenz blickt vom Küchentisch auf das angrenzende Zimmer und die geöffnete Balkontür. Draußen rauscht die Birke. „Das Solidaritätskonzert war nicht meine Idee“, betont er. „Ich war völlig gerührt. Das ist gelebte Solidarität.“ Anders als angekündigt habe das Landgericht noch kein Gutachten darüber eingeholt, ob ihm eine neue Wohnsituation zuzumuten ist.
"Mein Zustand wird langsam, aber penetrant schlechter"
1997 hatten sich bei ihm die ersten Anzeichen der chronisch-entzündlichen Nervenerkrankung gezeigt, deren Ursachen bis heute nicht bekannt sind. Erst 2003 habe er die Diagnose bekommen, erzählt der gebürtige Meininger. Er gehöre zu den wenigen, bei denen die Krankheit nicht in Schüben verlaufe: „Mein Zustand wird langsam, aber penetrant schlechter.“ Zunächst habe er sich noch die Treppe hochschleppen können, erzählt der Fan von „Go“, einem asiatischen Brettspiel. „Ich hatte immer die Hoffnung, es wird nicht schlimmer.“ Als er dann nur noch die Treppe hinunterrutschen konnte oder Stunden brauchte, um seine Wohnung zu erreichen, bot ihm die Krankenkasse die Treppenraupe an.
Seit 1981 lebt Lenz in Potsdam, Grund für den Wegzug aus Halle/Saale war, dass sein Vater als Schauspiellehrer an die DDR-Hochschule für Film und Fernsehen wechselte. Dass er sich in seinem Wohnviertel so wohl fühlt, liegt mit daran, dass seine Eltern und zwei seiner Kinder in der Nähe wohnen. Nicht zuletzt ihretwegen kann er sich ein beengtes Leben in einem Heim nicht vorstellen. „Dort steht dann einmal im Jahr Plätzchenbacken auf dem Programm“, unkt er mit Christian herum. „Bloß weil ich behindert bin, reicht es mir nicht, Fliegen zu zählen.“ Er warte jetzt erst einmal ab: „Im Zweifelsfall lieber nichts tun, als etwa Falsches.“
Isabel Fannrich-Lautenschläger
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