Landeshauptstadt: Extra-Schicht für den Chor
Ein Ort mit Strahlkraft: In der Grundschule am Priesterweg soll das Wort Bildung einen neuen Klang bekommen
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Manchmal ist einfach verkehrte Welt. Mitten in den Sommerferien sieht Elvira Eichelbaum einen Jungen aus der 4. Klasse in der Schule sitzen. Was er hier mache, habe sie ihn gefragt, erzählt die Schulleiterin. „Omi abholen vom Tanz“, antwortete David. Die Großmutter tanzt jeden Dienstag beim „Tanzplausch“ im Stadtteiltreff Oskar, mitten in der Schule.
Solche Rollenwechsel sind inzwischen Alltag in der erst im vergangenen Jahr neu eröffneten Grundschule am Priesterweg, der sogenannten Stadtteilschule. Da führen Kinder ihre Eltern ins erste Klassikkonzert ihres Lebens, da zeigen Drewitzer Rentner den Schülern im Ausstellungsraum neben der Mensa ihre alten Kameras oder ihre selbstgebastelten James-Bond-Automodelle. Da bereiten Kinder Tanz- und Opernaufführungen für den gesamten Stadtteil vor. Es ist diese neue Art an Erfahrungen, die diesem Viertel gut tun. Und vor allem den Kindern: Nicht nur Lernen aus dem Lehrbuch, sondern so viel wie möglich durch andere Personen und Begegnungen – das ist der neue Ansatz. „Sodass jeder hier seinen Mentor findet“, sagt Eichelbaum.
Noch bis vor wenigen Jahren zog nach Drewitz nur, wer hier eine Wohnung vom Sozialamt zugewiesen bekam. „Keiner kam mehr freiwillig“, erinnert sich Eichelbaum. Das hat auch in die Schule hineingestrahlt. Die Schulleiterin macht mit den Armen eine Wellenbewegung nach unten. „Ein Tal und der absolute Rückzug der Eltern.“ Dementsprechend groß war die Überlastung der Lehrer, den Wert von Bildung zu vermitteln.
„Es hat sich kolossal viel verändert“, sagt Eichelbaum. In diesem Schuljahr hat sich die Zahl der Erstklässler fast verdoppelt, Familien selbst aus der Innenstadt oder dem Umland melden ihre Kinder in der Stadtteilschule an und auch in anderen Jahrgängen kommen stetig neue Schüler hinzu.
Das mag an dem architektonischen Umbau der Schule und der Gartenstadt liegen, vor allem aber an einem lang vorbereiteten Glücksgriff: Die Schule ist sowohl Begegnungszentrum für den gesamten Stadtteil als auch Proben- und Aufführungsort der Kammerakademie Potsdam. Wenn die Schule nicht gelingt, wird die Gartenstadt nicht gelingen, hieß es damals schon bei der Erarbeitung des Konzepts.
„Es funktioniert, es funktioniert“, sagt Kathleen Walter, Leiterin des Stadtteiltreffs Oskar. Die Bewohner nehmen die Angebote im Oskar an. Mehr als ein Dutzend kostenlose Veranstaltungen gibt es wöchentlich: von der Schuldnerberatung über Filzkurs, Puppenspielgruppe oder „English Conversation“. „Wir probieren natürlich noch viel aus, zu manchen Kursen meldet sich auch niemand an“, sagt Walter. „Aber wir geben Drewitz Farbe.“
Im Musiksaal der Stadtteilschule ist mal wieder die Kammerakademie zu Gast, ein Violinist und ein Pianist. Beide wollen den Grundschülern Béla Bartóks „Rumänische Tänze“ näherbringen. Wie hat Bartók die Volkslieder, die er von den Bauern in Transylvanien hörte, sich wohl gemerkt, fragt der Geiger und Moderator Peter Rainer. Viele Kinder melden sich. „Ins Handy als Notiz getippt“, vermutet ein Mädchen. Damals habe Bartók das eher auf ein Gramograf aufgenommen, klärt Rainer auf und fragt: „Wer kennt denn ein deutsches Volkslied?“ Diesmal schnellen die Finger nicht in die Höhe.
Immerhin: Über die Musik funktioniert plötzlich auch das Lernen besser – das Konzentrieren, das Zuhören. „Man merkt spontan eine andere Leistungsbereitschaft“, sagt Eichelbaum. Sie hofft, über diese Art an Begegnungen – nicht nur mit der Musik – auch die Eltern zu erreichen. Das sei sicher noch ein harter, weiter Weg, meint sie. Denn sich selbst bilden, die eigenen Existenzängste überspringen – das hätten viele nicht gelernt. „Manche müssten sich um 180 Grad drehen und, statt zu konsumieren, mitmachen und Verantwortung übernehmen.“
Wenn das Orchester in Drewitz spielt, öffnen sich für die Schüler und für den ganzen Stadtteil die Türen zu den Proben. Inzwischen seien manche Kinder mit klassischer Musik viel vertrauter als deren Eltern, sagt Elvira Eichelbaum. „Diesen Zugang zur Kultur gab es über Jahre nicht.“ Ein Mädchen habe sich zum Geburtstag sogar statt Geschenke einen Orchesterbesuch gewünscht.
In den nächsten Monaten probt die Kammerakademie für das Winteropernprojekt in der Schule. Erstmals sollen auch Bürger aus dem Stadtteil in einem Chor mitsingen. Eine Mutter wollte dafür extra ihren Schichtdienst verlegen.
nbsp;Grit Weirauch
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