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Landeshauptstadt: Fahnen nähen gegen die Uhr

Die Zeit der Potsdamer Konferenz vor 60 Jahren: Zeitzeugen zwischen Alltagssorgen, Todesangst und Überlebenswillen

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Die Zeit der Potsdamer Konferenz vor 60 Jahren: Zeitzeugen zwischen Alltagssorgen, Todesangst und Überlebenswillen Am 16. Juli 1945, einem Montag, spukt der Familie von Heinz Eckner das Angstwort „Sibirien“ im Kopf herum. „An dem Tag kam der Befehl, dass am nächsten Morgen zur Eröffnung der Potsdamer Konferenz die Häuser in Nedlitz und Neu Fahrland, die an der heutigen B2 stehen, mit den Fahnen der Alliierten geschmückt sein sollten“, erinnert sich Eckner, der damals sieben Jahre alt war. Das Problem: Nach zwölf Jahren NS-Herrschaft sind Flaggen der einstigen Feindstaaten Mangelware. „Man wäre ja auch lebensmüde gewesen“, sagt Eckner. Doch an jenem Montag müssen solche Fahnen irgendwo aufgetrieben werden. „Jeder hatte Angst, einen Befehl der Russen zu ignorieren.“ Die hohe Politik beschäftigt sich am 16. Juli mit globalen Problemen. Der amerikanische Präsident Truman weilt schon einen Tag in Potsdam und erhält die Eildepesche „Babies satisfactorily born“: Der erste Atombombentest in der Wüste von New Mexico ist erfolgreich verlaufen, die nuklearen Babys geboren. Am nächsten Tag soll die neue Waffe als Druckmittel im beginnenden Machtkampf zwischen Ost und West eingesetzt werden: Bei der am 17. Juli eröffneten Konferenz von Potsdam wollen die drei Siegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien die Weichen für die europäische Nachkriegsordnung stellen. Bis zum 2. August dauern die Verhandlungen im Schloss Cecilienhof. Heute urteilen Historiker wie Konrad Jarausch, Leiter des Potsdamer Zentrums für zeithistorische Forschung: „In den Beschlüssen der Konferenz lagen die Keime für den Kalten Krieg, das Verhältnis zwischen den Alliierten verschlechterte sich erkennbar.“ Die Eckners werden diese Entwicklungen erst später bemerken, am Tag vor dem Treffen interessiert sie nur ihr Überleben. „Wie sehen die Flaggen eigentlich aus? Wie viel Sterne besitzt die amerikanische Fahne?“, nennt Heinz Eckner nur zwei der entscheidenden Fragen. Das alte „Schlag nach“-Lexikon wird bemüht, die Zahl der US-Bundesstaaten errechnet. Skizzen werden gemalt, das sowjetische Emblem mit einem Hammer und einem Teller für die Sichel improvisiert. „Die britische Flagge war ein nähtechnisches Kunstwerk, weil sich in der Mitte weiße, blaue und rote, gerade und schräge Kreuze treffen“. Die nächste bange Frage: Woher den Stoff nehmen? Nicht überall in Potsdam ist die Aufregung am Vorabend der Konferenz so groß. Der Tag ist sonnig, 25 Grad. „Von dem, was in der Stadt los war, habe ich nur wenig mitbekommen“, bekennt Horst Goltz. Der damals 15-Jährige lebt mit seiner Mutter und seiner Schwester auf Hermannswerder, der Vater ist in Kriegsgefangenschaft. „Bei uns ging es vor allem darum Lebensmittel zu besorgen“, so Goltz über die Alltagssorgen. Die Nachrichtenlage sei schlecht gewesen, wenig wäre bis auf Potsdams Halbinsel gedrungen. So erinnert sich Horst Goltz vor allem an eine Sache, die ihm in der Zeit um die historische Konferenz herum passiert ist: „Anfang August aß ich zum ersten Mal eine Butterstulle, das weiß ich noch.“ Anders in Babelsberg. Dort werden in Vorbereitung der Konferenz viele Villen um den Griebnitzsee herum beräumt, wie Karl-Heinz Peter Voß in seinem Erinnerungsbuch „Potsdam 1945“ berichtet. „Stalin, Truman und Churchill zogen dort mit ihren Stäben ein.“ Stalin wählt die Villa Herpich am Griebnitzsee, Truman quartiert sich in ebenfalls in der Karl-Marx-Straße in das Haus des Verlegers Carl Müller-Grote ein. Churchill kommt im Domizil des Bankiers Franz Urbig in der heutigen Virchowstraße unter. Flüchtlinge und Ausgebombte, die vorher dort Zuflucht gefunden hatten, müssen sich in der Folge eine neue Bleibe suchen. „Dieses Gebiet wurde erst viele Jahre später wieder freigegeben.“ Ferner erzählt Voß von einer Siegesfeier im Park um das Schloss Sanssouci herum. Fesselballons mit den Bildern von Stalin, Truman und Churchill werden aufgezogen und mit Flakscheinwerfern angestrahlt. „Soldatenformationen in Zugstärke schossen dazu von verschiedenen Standpunkten im Park aus Leuchtpistolen ,Feuerwerk“. Lautsprecher waren an den Bäumen aufgehängt und grölten Tag und Nacht“, heißt es bei Voß. Ebenso soll es zu zahlreichen Verhaftungen im Vorfeld der Konferenz gekommen sein, wie sich die meisten Zeitzeugen der Zeit noch erinnern. „Darüber haben wir auch in Hermannswerder gesprochen, obwohl aus unserem Bekanntenkreis niemand verschleppt wurde“, sagt Horst Goltz. Mit diesem Wissen im Kopf suchen auch die Eckners für ihr Stoffproblem eine Lösung. „Die westlichen Alliierten hatten ein etwas dunkleres Rot in den Flaggen – da konnte auch die alte Nazifahne mit ihrem blutroten Tuch nicht helfen“, sagt Heinz Eckner. Seiner Großmutter kommt die Idee, altes Bettzeug zu verwenden. Die Sterne und Streifen der US-Flagge werden aus einem weißen Laken herausgeschnitten. „Für das Blau der britischen und französischen Fahne musste ich das Inlett meines Kinderbetts opfern, denn es hatte die richtige Farbe. Gefragt wurde ich natürlich nicht“, erzählt Eckner. Die Vorbereitungen für die Konferenz sind anderswo schon abgeschlossen. 1500 Lebensbäume, Silbertannen sowie Sträucher und Blumen sind um das Konferenzgelände herum gepflanzt, sechs Kilometer Asphaltstraße neu gelegt und 15 Straßen komplett erneuert worden. Die Glienicker Brücke ist gesperrt. Einen Tag nach dem britischen Noch-Premier Winston Churchill – er verliert während der Konferenz die Parlamentswahl in England und wird durch Clemens Attlee ersetzt – und US-Präsident Truman trifft Stalin am Potsdamer Bahnhof ein. „Die Alliierten brachten ihre Leute alle selber mit, Deutsche hatten bei der Konferenz und in ihrem Umfeld keinen Zugang“, sagt Harald Berndt, der als Kastellan des Schlosses Cecilienhof gerade eine Sonderausstellung zum 60. Jahrestag der Konferenz vorbereitet hat. Nur Maueranschläge künden von den Zielen der Alliierten: Keine Vernichtung des deutschen Volkes, aber Beseitigung des Militarismus und Faschismus und Bestrafung der Kriegsverbrecher. Berndt urteilt über die Zeit: „Während der Konferenz sind kaum Informationen nach außen gedrungen.“ Erst am 2. August werden die Ergebnisse im Potsdamer Abkommen verkündet. Deutschland soll trotz der vier Besatzungszonen als wirtschaftliche Einheit betrachtet werden. Gleichzeitig zieht die Konferenz der „Großen Vier“ neue Grenzen: Die Oder-Neiße-Linie wird die Westgrenze Polens, Königsberg – heute Kaliningrad – und Teile Ostpreußens kommen unter sowjetische Verwaltung. Das Sudetenland geht zurück an die Tschechoslowakei, Elsass-Lothringen an Frankreich. Ebenso wird die „Überführung“ der Deutschen aus den Ostgebieten „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ beschlossen – in der Folge strömen bis 1950 zwölf Millionen Vertriebene in die beiden Hälften Deutschlands. Über die Zukunft der Heimat kann Familie Eckner kaum nachdenken, als sie in der Nacht vor der Konferenz um ihr Leben näht. Kerzen- und Karbidlampen bringen ein wenig Licht, zwei „Singer“-Nähmaschinen helfen ihnen und ihren Nachbarn bei der Arbeit. „Etwa um sieben Uhr früh waren alle Fahnen fertig“, sagt Heinz Eckner. Sie werden aufgehängt. Plötzlich will ein russischer Soldat die US-Flagge abreißen, warum weiß Eckner bis heute nicht. „Meine Mutter hielt sie mit dem Mute der Verzweiflung fest, bis irgendwann ein russischer Offizier kam und die Situation klärte.“ So sei damals eben vieles nur mit Glück zu überstehen gewesen. Und sahen Stalin, Truman oder Churchill die mühsam hergestellten Fahnen überhaupt? Eckner: „Soweit ich mich erinnern kann, sind sie nie durch Fahrland gefahren.“

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