Landeshauptstadt: „Falsche Worte“ zum Gedenken?
Kritik nach Andacht von Wilhelm Stintzing / Ehemaliger Pfarrer: „Ganz bewusst so gesagt“
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Innenstadt - Aufregung herrschte gestern in Potsdams Kirchenkreisen. Der Grund: Die Andacht des ehemaligen Pfarrers Wilhelm Stintzing, die der 93-jährige Potsdamer am Sonnabend in der „Versöhnungskapelle“ am Standort der Garnisonkirche gehalten hat. Anlass war der 62. Jahrestag der Potsdamer Bombennacht vom 14. April 1945. Zu dem Gedenkgottesdienst, zu dem das Stadtkirchenpfarramt Potsdam und die Fördergesellschaft zum Wiederaufbau der Garnisonkirche e.V. (FWG) eingeladen hatten, waren rund 60 Menschen in die Kapelle in der Breiten Straße gekommen. Die Andacht Stintzings verfolgten sie offenbar mit gemischten Gefühlen – einige, die ungenannt bleiben wollten, meinten danach, Stintzing habe die „falschen Worte“ gewählt. Es sei eine „Potsdamer Oettinger- Rede“ gewesen, hieß es gestern sogar. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günter Oettinger ist wegen seiner Trauerrede für Hans Filbinger, der in der Nazi-Zeit an Todesurteilen gegen Wehrmachtsdeserteure mitgewirkt hatte, in die öffentliche Kritik geraten.
Ob die Vorwürfe gegen Wilhelm Stintzing gerechtfertigt sind, dazu wollte sich der amtierende Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Potsdam, Immo Riebicke, gestern auf PNN-Anfrage nicht äußern. „Ich habe gehört, dass falsche Worte gefallen sein sollen“, so Riebicke. Er habe jedoch mit den Beteiligten noch nicht sprechen können. Johann-Peter Bauer, Vorsitzender der Fördergesellschaft, sagte, er würde es „für verhängnisvoll halten“, Stintzing in ein „Zwielicht“ zu bringen. Er habe die Andacht selbst nicht verfolgen können, da er bei einem Konzert zugunsten der Garnisonkirche in Bonn gewesen sei, doch er kenne Stintzing bereits sehr lange und dieser stehe „außerhalb jeder Kritik“.
Zeitzeuge Stintzing hatte in seiner Predigt auch über den Aufstieg Hitlers gesprochen (PNN berichteten) und dabei unter anderem erwähnt, wie die Arbeitslosen von der Straße weggeholt worden sein, „200 000 diese Woche und in der nächsten wieder 200 000“. Dies habe er „ganz bewusst gesagt – damit Sie begreifen, warum Ihre Vorgänger Anhänger Hitlers waren“, sagte Stintzing gestern auf PNN-Anfrage. Es sei ein Fehler, alle zurückliegenden Epochen nur negativ zu sehen. Dies ergebe ein „schiefes Bild“. Überzeugte Nationalsozialisten habe es in nahezu jeder Familie gegeben, „und die waren nicht alle böse oder Blödköpfe“. Sie hätten das Gefühl gehabt „hier fängt jetzt endlich mal was Neues an“. Hitlers Aufstieg sei „atemberaubend“ gewesen, und „unerhört gekonnt“. Dies dem Holocaust, dem „furchtbarsten Verbrechen, was auf dieser Erde in dieser Dimension passiert ist“ gegenüberzustellen, sei ihm wichtig gewesen, so Stintzing. Von den seiner Meinung nach von Anfang an geplanten Verbrechen hätten viele nichts oder kaum etwas gewusst, so Stintzing. Der heute 93-Jährige war als Abiturient auch Augenzeuge des „Tag von Potsdam“, bei dem Hitler und Hindenburg sich an der Garnisonkirche die Hand reichten.
FWG-Vorsitzender Bauer sagte, ihn hätten bisher vor allem „nachdenkliche“ Reaktionen auf Stintzings Andacht erreicht. Und Burkhart Franck, Schriftführer der Fördergesellschaft, sagte, wenn es etwas gebe, was man Stintzing vorwerfen könne, dann sei das die für eine Andacht „sehr zeitgeschichtliche Darstellung“. Die Frage, „ob man sich in einer Andacht so hätte artikulieren müssen, habe ich auch“, sagte Bauer. Andererseits könne eine Andacht nicht vorschreiben.
Wilhelm Stintzing selbst sagte gestern, er sei kein unbedingter Befürworter des Wiederaufbaus der Garnisonkirche. „Eine reine Gedächtniskirche macht keinen Sinn“, so Stintzing. Das von der FWG bisher geplante „Versöhnungszentrum“ sei ihm nicht genug. Es müsse etwas sein, „das sich selber trägt“. Seiner Vorstellung nach solle die Kirche zu einer Gedenkstätte für alle Opfer des Nationalsozialismus werden – eine solche gebe es bisher in Deutschland nicht. S. Schicketanz
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