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Landeshauptstadt: Fest nach Protokoll

Als Majestät vor der Holzeisenbahn kniete: Zum Weihnachtsfest im Neuen Palais gab sich Kaiser Wilhelm II. ganz privat. Der Grottensaal war durch zahllose Kerzen erleuchtet

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Die Vorbereitungen begannen schon am 21. Dezember. Zuerst wurden die guten Teppiche entfernt und durch „Berliner schlechtere“ ersetzt, wie der Kastellan des Neuen Palais überlieferte. Das verwundert nicht, denn der Boden war hinterher voller Kerzenwachs, der lieber auf die alten Teppiche aus dem Berliner Stadtschloss tropfen sollte als auf die guten Stücke, die zu anderen Jahreszeiten den Boden des Grotten- oder auch Muschelsaals schmückten.

Der Saal mit den muschel- und halbedelsteinbesetzten Wänden und Pfeilern war der Familiensaal der Kaiserfamilie und folglich feierten Wilhelm II., seine Frau Auguste Viktoria, die sieben Kinder und eine Reihe weiterer Verwandten im Grottensaal des Neuen Palais traditionell das Weihnachtsfest. Der Historiker und Archivar Jörg Kirschstein, der bei der Schlösserstiftung als Kastellan des Schlosses Hohenschönhausen arbeitet, ist ein Kenner der Nutzung des Neuen Palais zur Zeit Wilhelms II. „Jeder bekam seinen eigenen Weihnachtsbaum“, erzählt er, „und bei den Kindern war es so: So alt wie das Kind war, so alt war auch der Baum.“

Der Charakter Wilhelms II. ist äußerst widersprüchlich. 1912 wird der selbsternannte „Friedenskaiser“ wegen seiner 25-jährigen friedlichen Regentschaft für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Zwei Jahre später unterschreibt der Uniform-Liebhaber und Befürworter alles Militärischen im Neuen Palais am 31. Juli 1914 den Befehl, der Deutschland in den Kriegszustand versetzt, ein Schritt, der Deutschland in den verhängnisvollen Ersten Weltkrieg führt. Die Schlösserstiftung wird im kommenden Jahr anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieg das Originaldokument zeigen, kündigt Kirschstein an. Der mittelgroße Monarch mit den nach oben gezwirbelten Bartenden wird vom Historiker Volker Ullrich so beschrieben: „Er war unsicher und arrogant, intelligent und impulsiv, vernarrt in die moderne Technik und zugleich verliebt in Pomp und Theatralik.“ Jörg Kirschstein weiß, dass dessen Söhne „ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihrem Vater hatten“. Anders hätte es der Hohenzollern, der als Ergebnis einer schweren Geburt zeitlebens an einem gelähmten, unterentwickelten Arm litt, auch gar nicht zugelassen. Überhaupt sahen die Kinder ihren Vater selten; immerhin am Weihnachtstag „war Wilhelm II. ein ganz privater Mann“, sagt Kastellan Kirschstein.

Vor dem Beginn des hoheitlichen Weihnachtsfestes wurde der Grottensaal auf zwölf Grad Celsius abgekühlt – eine vorbeugende Maßnahme, schließlich heizte sich der Saal wegen der vielen Kerzen an Bäumen, Wand- und Kronleuchtern schnell wieder auf. Noch heute kratzen Restauratoren mühevoll den kaiserlichen Kerzenruß vom kostbaren Wandschmuck. Die Kerzen in den fünf Kronleuchtern und den Bäumen mussten nicht alle einzeln angezündet werden. Ein umlaufender Docht am großen Weihnachtsbaum wirkte wie eine Zündschnur, die Flamme sprang vom Baum auf die Kronleuchter über. Eine Flamme genügte, um eine Kettenreaktion zu verursachen mit dem Ergebnis, dass alle Kerzen im Saal brannten, „ein schönes Schauspiel“, berichtet Kirschstein. Die Schilderung lässt Assoziationen zum Beginn des Ersten Weltkrieg zu: Das Attentat auf das österreichische Kronprinzenpaar in Sarajevo entzündete die Lunte und alsbald brannte Europa.

Der Ablauf des Festes war protokollarisch geplant. Um 16.45 Uhr traf sich die Familie im Wohnzimmer der Kaiserin, um dann für die um 17 Uhr angesetzte Bescherung in den Grottensaal zu gehen. Eine weihnachtliche Geschenkeliste ist nicht überliefert; bekannt ist, das Eitel Friedrich, der zweite Sohn des Kaiserpaars, zu Weihnachten 1895 einen Ponywagen geschenkt bekam, gezogen von einem echten kleinen Pony. 1910 waren die drei kleinen Enkelsöhne ohne ihre Eltern im Neuen Palais, da das Kronprinzenpaar in Ostindien weilte. „Die Kinder blieben bei den Großeltern“, erzählt Kirschstein. Wilhelm II. schenkte den Knaben eine Holzeisenbahn. Die aber kamen damit nicht zurecht; also „kniete der Kaiser nieder und hat mit ihnen gespielt“.

Was sich das Kaiserpaar zum Fest schenkte, ist laut Kirschstein nicht überliefert, wohl aber eine Geburtstagsliste für die Kaiserin. Demnach erhielt sie von ihrem Gemahl „acht Hüte“ oder Pelzmäntel sowie Bücher und Fotorahmen. Vom Hofgärtner gab es eine Sandtorte. Wilhelm II. erhielt gemäß seinem militärischen Naturell beispielsweise Gemälde, die Szenen von berühmten Seeschlachten zeigten.

Ob zu Heiligabend in der kaiserlichen Familie gesungen oder musiziert wurde, ist nicht bekannt. Der Kaiserin Auguste Viktoria jedenfalls muss der Klang der Musik gefallen haben: Bei einem ihrer Geburtstage sang ihr im Neuen Palais kein Geringerer als der berühmte Enrico Caruso ein Ständchen, der wohl beste Tenor aller Zeiten.

Nach der Bescherung stand ab 19 Uhr das Weihnachtsessen im Apollo-Saal auf dem Plan. Heute ist es das untere Konzertzimmer, das zur Ausstellung anlässlich des 300. Geburtstages Friedrich II. erstmals wieder zu besichtigen war. Kirschstein erzählt, dass Kerzen zu jener Zeit sehr teuer waren und diese daher im Grottensaal umgehend gelöscht wurden, während die kaiserliche Familie speiste. Erst nachdem diese gegen 20.30 Uhr in den Grottensaal zurückkehrte, wurden sie erneut per Kettenreaktion entzündet. Der Abschluss des kaiserlichen Weihnachtsrituals war am 25. Dezember der gemeinsame Besuch des Weihnachtsgottesdienstes in der Friedenskirche.

Die geschichtliche Rolle Wilhelms II. wird heute differenzierter gesehen als noch vor Jahren, als dem Hohenzollern eine Hauptschuld am Kriegsausbruch 1914 gegeben wurde, erklärt Kirschstein und verweist auf „Die Schlafwandler“, das aktuell viel diskutierte Buch von Christopher Clark über den Beginn des Ersten Weltkrieges, der sich 2014 zum 100. Mal jährt. Wilhelm II. stand für 25 Jahre Frieden, sagt Kirschstein. Die Deutschen blickten zudem auf Kriege zurück, „die mit Pauken und Trompeten gewonnen wurden“. Kein Wunder, fasst Kirschstein zusammen, „dass alle dachten, sie seien zu Weihnachten wieder zu Hause“.

nbsp;Guido Berg

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