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Landeshauptstadt: Fit für den Arbeitsmarkt

Das Berufsbildungswerk wird 20 Jahre, aber das Oberlinhaus bildet Behinderte schon seit 1886 aus

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Babelsberg - Der Junge konnte nicht laufen, nicht lesen, nicht schreiben. Zehn Jahre alt war Ludwig Gerhardt, als er im Mai 1886 im Kinderhaus des Oberlinhauses aufgenommen wurde. „Ludwig ist seit Geburt gelähmt, sein Geist dagegen normal entwickelt“, heißt es in den Akten des Oberlinhauses, wo der Junge die Nummer „1“ trägt. Der Sohn von zwei „Cigarrenarbeitern“ aus Berlin war der erste Patient, der im Oberlinhaus beruflich gebildet wurde. Er lernte lesen und schreiben, beschäftigte sich mit biblischer Geschichte, wurde aber auch „im Anfertigen von Kopierarbeiten“ geschult, später im Korbmachen und Bürstenbinden. „Durch Massage und systematische Bewegungen lernte er mit Hilfe eines Stockes gehen“, vermerkt die Akte. Im März 1895 wurde er, 19-jährig, entlassen.

Auf 125 Jahre Berufsbildung für Menschen mit Behinderungen kann das Oberlinhaus in diesem Jahr zurückblicken. Gleichzeitig jährte sich am gestrigen Montag die Gründung des Berufsbildungswerkes im Oberlinhaus (BBW) zum 20. Mal. Sechs vergleichbare Einrichtungen zur beruflichen Ausbildung von behinderten Jugendlichen gebe es in Ostdeutschland – das BBW ist das einzige mit einem ostdeutschen Träger, betont Geschäftsführerin Margit Kanitz.

Rund 840 Azubis lernen heute am BBW, vor 20 Jahren waren es noch weniger als die Hälfte. Die Jugendlichen haben die Wahl zwischen 30 Ausbildungsberufen, das Angebot reicht vom Tischler über den Orthopädietechniker, Buchbinder, Metallbauer, Koch oder Verkäufer bis hin zur Bürokraft oder dem Immobilienkaufmann. An der eigenen Berufsfachschule bildet das BBW zudem Heilerziehungspfleger, Sozialassistenten und Erzieher aus. Für die Unterbringung stehen 420 Internatsplätze in Kleinmachnow und am Campus in der Steinstraße zur Verfügung. Das 159 Millionen DM teure Neubau-Projekt wurde abgeschlossen.

Durchschnittlich drei „Diagnosen“ hat ein Jugendlicher, der seine Ausbildung am BBW beginnt, erklärt BBW-Sprecherin Birgit Fischer. Immer häufiger seien seelische Erkrankungen darunter – so gebe es bereits ein spezielles Konzept zur Ausbildung von Autisten. Die meisten Azubis werden über die Arbeitsagentur, Rentenversicherung oder Unfallkassen an die Bildungseinrichtung vermittelt. Ziel ist, die Absolventen für den ersten Arbeitsmarkt fit zu machen.

Das klappt noch lange nicht bei jedem, räumt BBW-Chefin Margit Kanitz ein: Einer eigenen Studie zufolge findet nur jeder dritte Absolvent direkt nach dem Abschluss einen Arbeitsplatz, nach anderthalb Jahren ist immerhin jeder zweite in Arbeit. Den Grund dafür sieht Kanitz auch bei den Arbeitgebern. Zwar gebe es gegenüber behinderten Menschen „grundsätzlich eine Tendenz, sich zu öffnen“, aber trotzdem vielerorts noch „Nachholbedarf“. Barrierefreiheit müsse es nicht nur in den Gebäuden geben, sondern auch in den Köpfen – der Kollegen oder Chefs.

Um daran zu arbeiten, setzt das BBW auf Kooperationen mit potenziellen Arbeitgebern. „Wir wollen uns besser mit der Wirtschaft und mit öffentlichen Arbeitgebern verzahnen“, erklärt Margit Kanitz. Derzeit werde etwa die Zusammenarbeit mit den brandenburgischen Ministerien geplant – Azubis und Arbeitgeber können sich dann bei Praktika kennenlernen – „ohne Risiko“. Jana Haase

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