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Homepage: Flucht in die Unwissenheit

Eine Untersuchung zu den Deutschen und der Judenverfolgung 1933-1945 wirft ein neues Licht auf die Rolle der Bevölkerung

Stand:

Einen Bruch mit bisherigen Sichtweisen zur Haltung der deutschen Bevölkerung zum Holocaust vollzieht der Historiker Prof. Peter Longerich in seinem aktuellen Buch „ Davon haben wir nichts gewusst!“ (Siedler, ISBN 3-88680-843-2). Wie er bei der Vorstellung seiner Studie unlängst im Kutschstall deutlich machte, fand die Judenverfolgung in der NS-Zeit zwar in aller Öffentlichkeit statt. Bis 1943 hat die NS-Propaganda auch immer wieder Hinweise auf die tatsächliche Umsetzung der von Hitler unverblümt angekündigten „Ausrottung“ der europäischen Juden gestreut – der Judenmord war so etwas wie ein „öffentliches Geheimnis“. Doch, und das hat man so noch nicht gelesen, macht der Historiker anhand der von ihm ausgewerteten Quellen einen deutlichen Unwillen bei der Bevölkerung in der „Judenfrage“ aus.

Longerich hat, wie er auf der Veranstaltung des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) erläuterte, für seine Studie unter anderem so genannte Stimmungsberichte als Quellen zu Rate gezogen. Berichte, die in der NS-Zeit von vielen Institutionen des Staates erstellt wurden. Sie gaben dem Regime Auskunft darüber, inwieweit die Propaganda fußte. Nachdem sich in diesen Berichten zwischen Spätsommer 1941 und Frühjahr 1943 gezeigt hatte, dass die Deutschen mit „deutlichem Unwillen“ auf die Judenverfolgung reagierten, habe das Regime zunächst die antisemitische Propaganda verstärkt. Immer offener wurden, so Longerich, die Hinweise auf die Vernichtung der Juden. Mitte 1943 macht der Historiker, der auch bislang unbearbeitete Dokumente einer NS-Propagandakonferenz einbezogen hat, dann aber eine Kehrtwende aus. Der Bevölkerung war die Verschärfung der Propaganda offensichtlich zu viel geworden. Über die so genannte „Endlösung“ wurde ein Deckmantel des Schweigens gebreitet. Von nun an wurde auch die Repression wieder verstärkt, so entsandte Goebbels etwa Schlägertrupps in Berliner Kneipen, um Äußerungen, die außerhalb des vom Regime verordneteten Rahmens lagen, gewaltsam zu unterdrücken.

Die Nazis hatten die „Judenfrage“ von Anfang an mit dem „Schicksal des deutschen Volkes“ verknüpft – nur eines der beiden Völker könne überleben. „Die Judenverfolgung hatte einen zentralen Stellenwert bei der Bemühung, die Öffentlichkeit immer wieder auf das Regime auszurichten“, so Longerich. „Man kann sehen, dass die Zustimmung zum Judenmord durch das Regime schrittweise in der Bevölkerung durchgesetzt werden musste.“ Es habe sich um einen Erziehungsprozess mit Hilfe der Propaganda gehandelt, der durch repressive Maßnahmen ergänzt werden musste.

Dabei hätten die Nazis geschickt die Deutschen Schritt für Schritt tiefer in die Verantwortung mit hineingezogen. „Der Bevölkerung wurde klar gemacht, dass sie im Falle einer Niederlage für die Verbrechen des Regimes als dessen Mitwisser und Komplizen zur Rechenschaft gezogen werden würden“, so der Historiker. Doch offenkundig sperrte man sich gegen die Vorstellung einer solchen kollektiven Haftung. „Je wahrscheinlicher die Niederlage wurde, desto größer war das Bedürfnis, sich dem Wissen über das offensichtlich vor sich gehende Verbrechen zu entziehen und sich in ostentative Ahnungslosigkeit zu flüchten.“ Die einzelne Informationen über den Massenmord seien im Groben vorhanden gewesen. „Man weigerte sich aber, sie zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen.“

Longerich macht eine Tendenz zur Verdrängung aus. Die sichtbar zur Schau getragene Indifferenz und Passivität gegenüber der „Judenfrage“ dürfe nicht mit bloßem Desinteresse der Bürger an der Judenverfolgung verwechselt werden. „Es scheint, als habe die nach Kriegsende zur stereotypen Floskel gewordenen Redewendung, man habe ,davon“ nichts gewusst, ihre Wurzeln in eben dieser Verweigerungshaltung der zweiten Kriegshälfte, in der „Flucht in die Unwissenheit“, so das Fazit des Historikers, der das Research-Center for the Holocaust and Twentieth-Century History in London leitet.

Der „Unwille“, auf den Longerich in den Stimmungsberichten gestoßen war, habe sich in der gesamten NS-Zeit gezeigt: die „Judenpolitik“ der Nazis hätte in der Bevölkerung ein „erhebliches Maß an Verständnislosigkeit, Skepsis uns Kritik“ zu überwinden gehabt. „Große Teile der Bevölkerung waren offenbar nicht ohne weiteres bereit, durch ihr Alltagsverhalten Zustimmung zur antisemitischen Politik und Propaganda zu signalisieren“, so Longerich. Doch hätten diese negativen Reaktionen sich in sehr unterschiedlichen Formen geäußert. „Eine geschlossene, politisch und moralisch fundierte Gegenbewegung konnte sich unter den herrschenden Bedingungen nicht formieren.“ Hilfreich war für die Nazis dabei, dass es eine Öffentlichkeit, wie wir sie heute mit ihren vielfältigen Diskussionsforen kennen, nach der nahezu lückenlosen Gleichschaltung des öffentlichen Lebens nicht mehr gab.

Mit der Beschreibung eines Unwillens der Deutschen gegenüber dem Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten steht Longerich konträr zur Auffassung von US-Historiker Daniel Goldhagen, der die passive Haltung der meisten Deutschen gegenüber dem Holocaust aus einem tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus erklärt und als grundsätzliche Zustimmung zur Judenverfolgung beschreibt.

Longerich bestätigt vielmehr die These, dass das Nicht-Wissen über den Holocaust im Grunde ein Nicht-Wissen-Wollen war. Differenziert arbeitet er heraus, dass man sich mit Passivität aus der Affaire zu ziehen versuchte. Was die Arbeit des Historikers dabei so stark macht, ist die Tatsache, dass er Stimmungsberichte als Quellen benutzte. Berichte die akribisch wie Seismographen die Haltungen der Menschen aufzeichneten. Hier zeigt sich, dass der Massenmord an den Juden immer auch einer Rückversicherung in der Bevölkerung bedurfte: Um zu sehen, wie weit die Menschen mit gingen. Folgt man Longerichs Studie, so gab es im NS-Regime – allen voran bei Goebbels – offenkundig die Befürchtung, dass die Stimmung auch kippen konnte.

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