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Sport: Freunde am Sprint

Vitalij Martyn startete bei der Europameisterschaft der gehörlosen Leichtathletik-Junioren

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„Auf die Plätze, fertig...“ Vitalij Martyn konzentriert sich und schaut auf den Boden. Die vor seinem Startblock angebaute Ampel ist gerade von Rot auf Gelb umgesprungen, wie auch bei allen anderen Wettkämpfern. Gleich erscheint das grüne Licht, gleich wird Vitalij Martyn loslaufen müssen, und er wird ein dumpfes Geräusch hören.

Das Geräusch ist der normale Startschuss aus der Pistole – das doppelte Startsignal kannte der Potsdamer Leichtathlet von Wettkämpfen in Deutschland bisher nicht. Erstmals erlebte er ihn im türkischen Trabzon. Dort war er einer von acht Teilnehmern, die für den Deutschen Gehörlosen-Sportverband bei den Junioren-Europameisterschaften der Hörgeschädigten starteten.

Der Start war etwas anders als sonst, anderes dagegen war gleich: Wie seine Kontrahenten musste er aus Gründen der Chancengleichheit ohne Hörgerät antreten. „Kein Problem“, sagt Vitalij Martyn, der erst ab etwa 80 Dezibel hören kann. Trainiert wird meist ohne Hörhilfe, und an Erfolgen mangelt es auch nicht. Aktuell ist er Deutscher Meister über 200 Meter in der Altersklasse U20, auch in den vergangenen Jahren hat er zahlreiche Medaillen von Meisterschaften und den verschiedensten Sportfesten in Hamburg, München, Halle/Saale und anderen Städten mitgebracht.

Es hat ihm gut gefallen in der Türkei, erzählt Vitalij Martyn, auch in Istanbul, wo Sportler und Betreuer eine kleine Tour durch die Stadt unternahmen. Mit einigen Sportlern aus Spanien hat er sich angefreundet. Und der Sport? „Naja.“ Über 200 und 400 Meter und mit der deutschen Sprintstaffel war er angetreten, eine Medaille gab es während der vier Tage für ihn nicht. Die Gegner waren stärker, als er es aus Deutschland kannte.

Dass Vitalij Martyn mit der Leichtathletik anfing, war einigen Zufällen geschuldet. Seine Familie siedelte vor knapp zehn Jahren aus Turkmenistan nach Deutschland über, und er konnte mit neuneinhalb Jahren erstmals eine Schule besuchen. In der Wilhelm-vonTürk-Schule in Potsdam-Schlaatz, wo rund 125 Schüler mit unterschiedlichsten Hörbehinderungen unterrichtet werden, liegt ein wichtiges Augenmerk auf Sport – mit Armin Wolf ist ein Fußballer, der in der DDR-Bezirksliga spielte, stellvertretender Schulleiter.

Und nicht zuletzt machte es Vitalij Martyn sofort Spaß – mehr als die Schule, wie seine Lehrerin Theres Nägler, die für diesen Artikel gebärdendolmetschte, anmerkte. Regelmäßig trainiert er für seine Spezialdisziplin, die längeren Sprintstrecken, zweimal in der Woche in Berlin-Schöneberg; die Anlage der Türk-Schule verfügt nicht über eine normierte Laufbahn.

Nicht nur die Leichtathletik hat Vitalij Martyn für sich entdeckt. Er spielt auch Volleyball und Tischtennis und ist Mitglied im Hörgeschädigten-Sportverein (HgSV) Potsdam, der 1996 gegründet wurde und derzeit 89 Mitglieder hat. Hier werden auch Badminton und Fußball angeboten, insgesamt fünf Sportarten, dazu kommt eine Seniorensportgruppe. Dort treffen sich ehemalige Lehrer und Erzieher, die meisten von ihnen ohne Behinderung. Viele von ihnen haben vor 18 Jahren den Verein gegründet, ihre Mitgliedsbeiträge erleichtern es den Hörgeschädigten, zu den Wettkämpfen zu fahren. Der sportliche Erfolg: Insgesamt drei Nachwuchs-Leichtathleten des HgSV waren bei der Junioren-Europameisterschaft in Trabzon am Start, neben Martyn auch noch Jason Giuranna und Kevin Haake.

Fernab der Zeiten und Weiten hat der Sport eine weitere Funktion. „Es ist wichtig für die Persönlichkeit zu sagen: ,Ich kann etwas’“, sagt Armin Wolf, der sieht, mit welchen Schwierigkeiten die Schüler kämpfen, die ihren Regelabschluss machen wollen. Zuletzt war Wolf vor einer Woche mit 20 Schülern bei einem Wettkampf von Schulen für Hörgeschädigte in Berlin. Vitalij Martyn, inzwischen zu alt für diesen Wettkampf, fuhr mit und half an der Weitsprunggrube.

Noch ein Jahr wird er die Türk-Schule besuchen. Im kommenden Sommer geht er nach zehn Schuljahren in die Arbeitswelt. Zweiradmechaniker oder eine Arbeit in der Metallverarbeitung nennt er als Berufswunsch. Beeinflusst ist dieser auch von den Möglichkeiten, die Ausbildungsstätten für hörgeschädigte Menschen anbieten. Eine wäre beispielsweise in Husum, die andere in Leipzig – weit weg von Potsdam, weit weg auch von Lübben, wo seine Familie lebt. Er hat sich noch nicht entschieden, noch ist etwas Zeit. Beim Sport ist sich Vitalij Martyn sicherer: „Ich möchte weiter Leichtathletik machen.“ Ingmar Höfgen

Ingmar Höfgen

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